Die Tournee-Bilanz: Von Königen, Corona und Krisen
- Aktualisiert: 07.01.2021
- 11:55 Uhr
- SID
Die Vierschanzentournee 2020/21 wird natürlich als Corona-Tournee in die Historie eingehen. Doch sie war viel mehr als das.
Bischofshofen (SID) - Die Vierschanzentournee 2020/21 wird natürlich als Corona-Tournee in die Historie eingehen. Doch sie war viel mehr als das: Von Oberstdorf bis Bischofshofen schrieb sie kleine und große Geschichten, war packend von Anfang bis Ende. Der SID zieht nach zehn außergewöhnlichen Wettkampftagen Bilanz.
GEWINNER UND GLÜCKLICHE:
Karl Geiger
Wer ihn immer nur als braven Schwiegermutterschwarm kannte, wurde nun eines besseren belehrt. Der "Karle" kann auch richtig deftig fluchen: "In den letzten Jahren ist Innsbruck immer unser Genickbruch gewesen. Dass es dieses Jahr wieder so ist: Da kriegt man einfach nur das Kotzen", ranzte er in Innsbruck in die Mikros. Geigers Tournee war eine Telenovela für sich: Heimsieg in Oberstdorf, grandiose Aufholjagd in Garmisch-Partenkirchen, Absturz in Innsbruck, sagenhaftes Comeback und Gesamtplatz zwei in Bischofshofen - Geiger hat zwar nicht die Tournee, aber mächtig an Profil gewonnen. Das war großer Sport!
Kamil Stoch
Er wurde von einem der Größten zu einem der Allergrößten. Wie Stoch den kurzzeitigen Ausschluss der Polen in Oberstdorf nach dem positiven Coronatest seines Teamkollegen Klemens Muranka ohne ein böses Wort hinnahm, dann klaglos ans Werk ging, als er wieder mitwirken durfte, von Tag zu Tag besser wurde und schließlich mit riesigem Vorsprung zum dritten Mal die Tournee gewann - das war unvergleichlich. Stoch ist mit 33 Jahren immer noch der Beste seines Sports, der größte Skispringer der vergangenen zwei Jahrzehnte, ein Vorbild auf und neben der Schanze.
Das Coronakonzept
Es war ein Ritt auf der Rasierklinge, klar. Und der Ausschluss der Polen beruhte auf einem Fehler, ebenso klar. Doch hätten die Veranstalter irgendetwas anders, etwas besser machen können? Vermutlich nicht. Eine Veranstaltung wie die Vierschanzentournee in diesen Pandemiezeiten ohne entsprechende Erfahrungen durchzuziehen, war ein Wagnis. Die Tournee jedoch versank nicht im Chaos - ein Resultat harter Arbeit.
Sven Hannawald
Er bleibt weiter der deutsche Skispringer, der zuletzt die Vierschanzentournee gewonnen hat, obwohl er sich nach einem Nachfolger sehnt. Als Gewinner fühlte er sich daher nicht, der "Hanni" von einst ist wohl der größte Fan der DSV-Adler und wünscht sich wenig mehr als einen Tourneesieg eines Geiger oder Eisenbichler. Als ARD-Experte vermittelte er dies eindringlich, glänzte in seinem Premierenjahr im Ersten zudem mit fachlicher Klasse. Dass die Tournee als TV-Ereignis funktionierte, war auch ihm zu verdanken.
Die Tournee an sich
"C'est le Tour", sagt der Franzose, wenn er über die Frankreich-Rundfahrt der Radprofis redet und dem sportlichen Nationalstolz auch einige menschliche Schwächen verzeiht. "C'e le Tournee", lässt sich nun ebenso über diese Skisprungtage sagen. Nicht alles funktionierte, Corona hat der Tournee das Leben schwer gemacht, vieles an Stimmung gekillt. Jedoch: Eine solche Vierschanzentournee ist besser als keine Vierschanzentournee. Sie hat vielen Menschen Freude bereitet, und das ist schon etwas in diesen mitunter sehr grauen Tagen.
ENTTÄUSCHTE UND ENTTÄUSCHENDE
Markus Eisenbichler
Ein Verlierer, das muss klar gesagt werden, ist der "Eisei" nicht. Und dennoch war das nicht seine Tournee. Als einer der ganz großen Favoriten kam er nach Oberstdorf, verlor seine Leichtigkeit, kämpfte leidenschaftlich, jubelte und fluchte, suchte nach Auswegen - und stürzte schließlich in Bischofshofen völlig ab. Weil er aber auch auf Niederlagen zutiefst menschlich reagierte, blieb er der Publikumsliebling. "I werd ma heid a paar Biere einelatschen und dann werds scho wieder wern", sagte er nach dem letzten Sprung. Muss man nicht ins Hochdeutsche übersetzen, berührt auch so.
Halvor Egner Granerud und Marius Lindvik
Der eine Norweger - Granerud - kam als Entdeckung der Saison und mit fünf Siegen in Serie zur Tournee, verlor dann erst die Form und dann den Stil, als er in Innsbruck gegen Sieger Stock zickte, und landete schließlich als Topfavorit nicht einmal auf dem Gesamtpodest. Der andere - Lindvik - indes war zur Tournee in Topform, landete in Oberstdorf vor Stoch und in Bischofshofen hinter diesem auf Platz zwei, wäre sein härtester Kontrahent gewesen - wenn er nicht die zwei Springen dazwischen wegen einer Zahn-OP verpasst hätte.
Die Österreicher
Stefan Kraft plagte sich mit den Folgen seiner Corona-Infektion, Michael Hayböck verlernte binnen Tagen das Skispringen, und der Gregor Schlierenzauer von 2020/21 springt, als hätte man den Schlierenzauer von 2006/07 als Flohmarkt-Imitat erworben. Mitveranstalter Österreich erlebte erneut eine Tournee zum Vergessen, blieb zum zweiten Mal in Folge ohne Podiumsplatz bei allen Springen, ist seit Oberstdorf 2016 ohne Tagessieg, seit 2014/15 ohne Gesamt-Triumph.
Simon Ammann
Der "Simi" ist einer der liebenswertesten Sportler überhaupt, umso mehr schmerzte es, ihn bei dieser Tournee zu sehen. Platz 32 in Oberstdorf war noch das mit Abstand beste Resultat des viermaligen Olympiasiegers. Ammann wird im Sommer 40, und man wünscht ihm so sehr, dass er einen würdigen Absprung schafft.
Die Prevc-Brüder
Vor nicht vielen Jahren sah es so aus, als läge die ganze Zukunft des Skispringens in den Händen einer slowenischen Familie. Davon sind der große Peter, der mittelgroße Cene und der kleine Domen nun weit entfernt. Die Schanzennation Slowenien trauert.