Die vierschanzentournee live auf Joyn
Skispringen: Wird der Fluch gebrochen? Sven Hannawald über die deutschen Chancen bei der Vierschanzentournee
- Veröffentlicht: 28.12.2025
- 11:14 Uhr
- Dominik Hager und Andreas Reiners
Deutschland wartet sehnsüchtig auf den nächsten Vierschanzentournee-Gewinner. Haben die DSV-Adler beim prestigeträchtigen Event um den Jahreswechsel diesmal die Chance? Wir machen den Check.
Von Dominik Hager und Andreas Reiners
Knapp 24 Jahre sind vergangen, seitdem Sven Hannawald als erster Skispringer der Geschichte alle vier Tournee-Springen für sich entschieden hat.
Genauso lang warten die deutschen Skispringer nun aber auch schon auf einen Erfolg bei der prestigeträchtigen Wettkampf-Serie in Oberstdorf, Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen (vom 28. Dezember bis 6. Januar auf Joyn).
Nicht wenige sprechen deshalb von einem Tournee-Fluch. Severin Freund, Richard Freitag, Markus Eisenbichler, Stephan Leyhe, Karl Geiger und Andreas Wellinger standen in jüngerer Vergangenheit allesamt auf dem Gesamt-Podium - und doch war immer mindestens einer besser.
Von den genannten Athleten sind nur noch Geiger und Wellinger aktiv, jedoch sprangen beide der Musik in diesem Winter weit hinterher. Ist das DSV-Team also praktisch schon chancenlos, bevor der erste Wertungsdurchgang absolviert wurde?
Vierschanzentournee: Zwei neue Hoffnungsträger im DSV-Team
Chancenlos sind die DSV-Adler nicht, vielmehr herrscht im Team seit dem Saisonstart so etwas wie verkehrte Welt. Während Geiger, Wellinger und Paschke schwächeln, haben Philipp Raimund und Felix Hoffmann zu bisher ungeahnten Höhenflügen angesetzt.
Raimund belegt in der Weltcup-Gesamtwertung den vierten Platz und stand in der laufenden Saison schon viermal auf dem Podium. Beim der Generalprobe, dem Weltcup in Engelberg, zeigte er sich mit zwei vierten Plätzen zuletzt auf Tuchfühlung mit der Spitze.
Noch besser lief es dort für Felix Hoffmann, der mit den Plätzen zwei und drei nachdrücklich auf sich aufmerksam machen konnte. Der 28-Jährige ist der Überraschungsmann des Jahres und belegt im Gesamtweltcup Platz sechs.
"Ich hoffe auch in diesem Jahr, dass mein Nachfolger gefunden wird. Es sieht grundsätzlich gut aus", sagte der letzte deutsche Gesamtsieger Sven Hannawald im ran-Gespräch: "Trotzdem muss man abwarten. Aber die Grundlage, von der ich immer spreche – diese stabile Basis, um auch bei erhöhtem Risiko konkurrenzfähig zu bleiben – die haben beide."
Philipp Raimund: Deutschland hat einen Tournee-Spezialist
Philipp Raimund ist genau das, was man im deutschen Team lange vergeblich gesucht hat: ein echter Tournee-Spezialist. Der 25-Jährige war in der Tournee-Wertung in den letzten drei Jahren immer besser als in der Weltcup-Gesamtwertung.
Während der Druck und die Atmosphäre den einen oder anderen lähmen mag, scheint sie Raimund eher zu beflügeln. Der neue deutsche Hoffnungsträger ist ein offener Typ mit einer lockeren und positiven Art. Wichtige Charaktereigenschaften, um dem Tournee-Rummel zu trotzen. "Mit Raimund machen Interviews Spaß – da kommt immer etwas Unerwartetes", sagt ARD-Experte Hannawald.
Hinzu kommt, dass Raimund als Starter des SC Oberstdorfs beim Tournee-Auftakt (auf Joyn und im LIVETICKER) ein Heimspiel hat. Ein weiterer Vorteil, weil Raimund die Schanze mag und mit dem meist vorherrschenden Rückenwind dank seiner enormen Absprung-Power exzellent klarkommt. "Raimund bringt enorme Power aus den Beinen mit, ein ganz anderes Niveau an Durchschlagskraft", betont Hannawald.
Schwieriger wird es für Raimund, wenn starker Aufwind vorherrscht. Diesen gibt es bei der Tournee normalerweise aber maximal in Innsbruck. Ein paar Mini-Defizite verzeichnet der Deutsche im Flug. Echte Künstler wie Ryoyu Kobayashi oder Domen Prevc könnten auf den beiden größten Tournee-Schanzen in Garmisch-Partenkirchen und Bischofshofen dennoch leichte Vorteile haben. Raimund müsste also wohl in Oberstdorf vorlegen, um ein Aspirant auf den Gesamtsieg zu sein.
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Felix Hoffmann: Newcomer mit 28 Jahren
Während Raimund in den vergangenen Jahren zumindest punktuell mit der Spitze mithalten konnte, ist Hoffmann ein absoluter Neuling auf Top-Ebene. Tatsächlich durfte der 28-Jährige in seiner langen Karriere erst einmal alle vier Tournee-Springen bestreiten und war vor Saisonbeginn noch nie in den Top 10 im Weltcup.
Die Veränderung im Materialbereich, hin zu enger anliegenden Anzügen, hat Hoffmann jedoch ähnlich wie Raimund absolut in die Karten gespielt. Wie stark der zweite deutsche Vorflieger wirklich ist, hat er in Engelberg beweisen. Hoffmann war in fast allen Trainings- und Quali-Durchgängen auf Platz eins und sprang in beiden Wettbewerben auf das Podium.
Ähnlich wie Raimund trumpft Hoffmann gerade dann auf, wenn der Wind von hinten kommt. "Hoffmann ist eher der Segler: leicht, feinfühlig, fast schwebend in der Luft", erklärt Hannawald.
Vierschanzentournee: Für Hannawald ist "ein deutsches Podium absolut drin"
Verglichen mit Raimund ist Hoffmann introvertierter, wirkt aber mental enorm abgeklärt. "Beiden tut die geringere Anzugfläche gut. Gerade bei Fehlern oder bei ungünstigem Wind wirst du mit zu viel Stoff sofort ausgebremst. Das ist jetzt nicht mehr so. Felix’ feinfühliger Flugstil profitiert davon, Raimund kann seine Aggressivität besser kontrollieren", erklärt Hannawald.
Grundsätzlich gilt laut Hannawald: "Raimund ist eher 'Augen zu und durch', oft eher zu viel als zu wenig. Hoffmann versucht, Fehler zu minimieren, alles sauber auszugleichen. Es wird extrem spannend zu sehen, wie beide auf ihre ganz eigene Art mit der Tournee umgehen."
Für Hannawald ist "ein deutsches Podium absolut drin". Dabei kommt es allerdings nicht nur auf Qualität und Können an, sondern auch auf die eigenen Gesetze, die die Tournee hat. "Ich weiß, wie gnadenlos sie ist. Die Tournee bringt Dinge mit sich, die man nicht steuern kann. Sobald man versucht, sie zu kontrollieren, geht es nach hinten los. Man muss dieses Vertrauen haben, dass es für einen laufen kann", erklärte Hannawald.
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Vierschanzentournee: Große Sorgen bei Wellinger und Geiger
Abgesehen von Raimund und Hoffmann dürfte kein DSV-Adler in der Lage sein, ganz vorne mitzumischen. Der im Vorjahr als Tournee-Mitfavorit gehandelte Pius Paschke belegt in der Gesamtwertung nur Platz 22. Mehr als Ergebnisse um Platz 15 sind von Paschke aktuell nicht zu erwarten.
Noch düsterer sind die Prognosen bei Karl Geiger und Andreas Wellinger. Die beiden langjährigen Top-Springer des deutschen Teams haben noch immer Schwierigkeiten, mit den engeren Anzügen zurechtzukommen. Ein Schicksal, das sie sich mit vielen anderen, größer gewachsenen Springern teilen.
Nach frustrierenden Ergebnissen im Weltcup legten beide eine Trainingspause ein. Was es gebracht hat, gilt es abzuwarten. Gerade bei Wellinger, der in der letzten Saison noch Vize-Weltmeister wurde, kann es auch mal ganz schnell gehen. Für beide gilt die Devise aber erstmal: Sicherheit gewinnen und regelmäßig in die Weltcup-Punkte zu springen.
Im schlimmsten Fall kann sich die Krise durch den gesamten Winter ziehen. Hannawald glaubt aber an einen Aufwärtstrend. "Zum Glück ist Skispringen eine Sportart, in der Veränderungen sehr schnell greifen können. Wenn du etwas findest, kann es sofort funktionieren. Ich erwarte keine Rückkehr ganz nach vorne. Aber wenn sie etwas finden, dann sind Platzierungen um 15 bis 10 absolut möglich. Wenn alles gut läuft, vielleicht auch mal unter die Top 10", sagte Hannawald.
Vierschanzentournee: Wie gefährlich ist die Konkurrenz für Raimund und Hoffmann?
Philipp Raimund und Felix Hofmann sind nicht die Top-Favoriten, zählen aber durchaus zum erweiterten Favoritenkreis. Höher einzuschätzen sind eigentlich nur zwei Springer: Domen Prevc und - wie so oft - Ryoyu Kobayashi.
Prevc hat fünf der letzten sechs Springen gewonnen und einen zweiten Platz belegt, wodurch er auf dem Papier der Gejagte ist. Der Slowene reiste bereits im Jahr 2016, im Alter von 17 Jahre, mit dem Gelben Trikot zur Tournee, konnte dem Druck aber nicht standhalten. Es folgten viele Jahre, in denen der Slowene nur noch bei Skiflug-Wettbewerben Erfolge feierte.
Mit seinem Weltmeistertitel 2025 hat sich Prevc als beständiger Weltklasse-Springer zurückgemeldet. Der 26-Jährige ist nicht mehr der Kamikaze-Pilot früherer Tage, sondern ein kompletter Springer, der mit allen Schanzen und Bedingungen umgehen kann.
Vierschanzentournee: Viel Lob für Überflieger Prevc
"Er hat sich komplett gefunden", lobt Hannawald. "Ich wäre früher der Erste gewesen, der unterschrieben hätte, dass er mit den neuen Anzügen Probleme bekommt, weil auch er von der größeren Fläche profitiert hatte. Dass er jetzt so gut zurechtkommt, hätte ich nicht erwartet. Aber das spricht für sein Fluggefühl, für seine Aggressivität – die heute deutlich kontrollierter ist als früher."
Die Achillesferse für den Flugkünstler dürfte dennoch das Springen in Oberstdorf werden. Seine beste Platzierung auf der Schattenbergschanze war ein neunter Platz. Herrscht dort starker Rückenwind, könnte die Chance für Raimund und Hoffmann gekommen sein.
Während Prevc nicht als Tournee-Spezialist gilt, trifft das auf Kobayashi zu 100 Prozent zu. Zuletzt galt die Devise, dass der Japaner die Tournee gewinnt, wenn er davor schon in Form ist.
So war es bereits 2019, 2022 und 2024. In diesem Jahr könnte es wieder so weit sein. Als Gesamt-Zweiter und Sieger der Generalprobe in Engelberg befindet sich Kobayashi in einer ganz starken Verfassung.
Der Olympiasieger aus dem Jahr 2022 ist mental unglaublich cool, macht fast keine Fehler und beherrscht alle vier Tournee-Schanzen fast in Perfektion. Folgerichtig müssen Raimund und Hoffmann 100 Prozent abrufen. Ein schwächerer Sprung und die Chance ist dahin.
Zum erweiterten Favoritenkreis gehören auch Anze Lanisek (Weltcup-Gesamtdritter) und das österreichische Team, mit Titelverteidiger Daniel Tschofenig und Weltklasse-Springern wie Stefan Kraft und Jan Hört.
Das Trio zeigte sich zwar zuletzt umkonstant, jedoch sind die Österreicher bei der Tournee traditionell stark. Mit Jonas Schuster und Stephan Embacher sind zudem zwei gefährliche Newcomer an Bord.
Fazit:
Unter dem Strich hat Deutschland deutlich bessere Chancen, als man es aufgrund der Probleme bei Wellinger und Geiger vermuten könnte. Lediglich Prevc und Kobayashi sind aktuell stärker einzuschätzen als Raimund und Hoffmann, die neben vier, fünf anderen Springern zum erweiterten Favoritenkreis gehören. Insbesondere Raimund ist viel zuzutrauen, wenn er in Oberstdorf gut abschneidet und in einen Flow kommt.
Die Wahrscheinlichkeit ist aber einmal mehr groß, dass ein oder zwei andere in der Gesamtabrechnung besser sind. Immerhin: die beiden neuen deutschen Vorflieger dürften stabil genug sein, um das ein oder andere Ausrufezeichen zu setzen und die Tournee nicht zum deutschen Debakel werden zu lassen.