Geschäftsführer Sport von Bayer Leverkusen im ran-Interview
Rudi Völler im ran-Interview zum vorzeitigen Rummenigge-Abschied: "Kalle hat Überragendes geleistet"
- Aktualisiert: 01.06.2021
- 19:38 Uhr
- ran / Andreas Kötter
Im Interview mit ran spricht Rudi Völler über den vorzeitigen Abschied von Karl-Heinz Rummenigge beim FC Bayern und schließt eine Bewerbung als DFB-Präsident aus. Kai Havertz traut er über 100 Länderspiele zu.
München - Gerade erst ist Rudi Völler in die "Hall Of Fame des deutschen Fußballs" aufgenommen. Im Interview mit ran spricht der Weltmeister von 1990 und heutige Geschäftsführer Sport von Bayer 04 Leverkusen über diese Ehrung und über die verlorene Romantik im Profi-Fußball.
Zudem äußert sich der 61-Jährige über die deutschen EM-Chancen und über den überraschenden Abschied von Karl-Heinz Rummenigge schon zum Monatsende.
ran: Herr Völler, Ihr ehemaliger Spieler Kai Havertz hat mit seinem Treffer das Champions League-Finale entschieden. Glauben Sie, dass Havertz auch bei der EM eine herausgehobene Rolle spielen wird?
Rudi Völler: Auf jeden Fall! Dass er als so junger Spieler und mit der Bürde einer sehr hohen Ablösesumme einen solchen Saison-Abschluss hatte, ist wichtig für ihn. Er hatte schwieriges erstes halbes Jahr, unter anderem auch wegen einer recht schweren COVID-19 Erkrankung. Thomas Tuchel hat dann aber gleich auf seine Qualitäten gesetzt, und vor allem in den letzten Wochen der Saison hat Kai hervorragend gespielt. Mir hat er im Halbfinale gegen Real Madrid sogar noch besser gefallen als jetzt gegen Manchester City. Was Kai ganz besonders auszeichnet, ist bei begnadeten Fußballern wie ihm eine Seltenheit: Er läuft extrem viel, gibt alles für die Mannschaft und ist überall auf dem Platz zu finden. Schon vor zwei Jahren habe ich gesagt, dass er irgendwann mehr als 100 Länderspiele haben wird. Und davon bin ich heute noch mehr überzeugt.
ran: Mit Kevin Volland wurde ein weiterer Ex-Leverkusener für die EM nominiert. Waren Sie überrascht?
Völler: Vor einem Jahr hätte man damit nicht rechnen müssen, selbst nach sehr guten Phasen bei uns spielte er damals für Jogi Löw kaum eine Rolle. In Monaco hat Kevin nun eine Top-Saison gespielt, nicht nur wegen seiner Tore und seiner Assists, sondern auch wegen der Wucht, die er stets auf den Platz gebracht hat. Zudem ist er auch ein sehr guter Einwechselspieler und kann problemlos jede der drei, vier offensiven Positionen ausfüllen. Diese Flexibilität kann einer Mannschaft bei einem großen Turnier sehr helfen.
ran: Wäre für Florian Wirtz, Bayers nächstes Top-Talent, eine Nominierung zu früh gekommen?
Völler: Ein Grund für sein Fehlen ist wohl die große Konkurrenz im Mittelfeld. Ich sehe das bei Florian aber sehr gelassen, und am Ende seiner Karriere wird auch er sehr viele A-Länderspiele auf seinem Buckel haben. Zudem ich weiß, dass Hansi Flick große Stücke auf ihn hält.
ran: Jogi Löw selbst zählt sein Team nicht zum engsten Favoriten-Kreis. Wie ist Ihre Einschätzung?
Völler: Die Ergebnisse in den vergangenen Monaten waren ja nicht so gut. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass dieser Kader stark genug ist, sich mit allen anderen Teams messen zu können. Natürlich ist Frankreich im Augenblick der Top-Favorit, aber unsere Mannschaft, zusammen mit den Italienern, den Engländern und den Belgiern, wird ein Wörtchen mitreden.
ran: Sie haben Spanien nicht genannt.
Völler: Stimmt. Obwohl uns die Spanier vor nicht allzu langer Zeit mit 6:0 geschlagen haben, sehe ich sie nicht so stark wie früher. Einige starke junge Spieler sind zwar nachgekommen, trotzdem glaube ich, dass die ganz große, die goldene Ära der Spanier erst einmal vorbei ist.
ran: Haben Sie auch so etwas wie einen Geheimtipp?
Völler: Von Geheimtipp kann man bei Portugal sicher nicht sprechen, schließlich ist das der Titelverteidiger. Allerdings sehe ich die Portugiesen jetzt noch ein ganzes Stück stärker als bei ihrem EM-Titel 2016. Es stehen viele Spieler bei absoluten Top-Vereinen unter Vertrag. Sie gehören dort zu den Leistungsträgern wie Ruben Dias, Joao Cancelo und Bernardo Silva bei Manchester City, Bruno Fernandes bei Manchester United, Joao Felix bei Atletico Madrid oder Diogo Jota beim FC Liverpool. Jose Fonte als Kapitän und Renato Sanches sind gerade mit Lille französischer Meister geworden, Andre Silva ist der zweitbeste Torschütze der vergangenen Bundesliga-Saison. Nicht zu vergessen Cristiano Ronaldo. Eine Top-Mannschaft also. Und wenn sich Deutschland hier, in der mit Abstand stärksten Vorrundengruppe, gegen Frankreich, Ungarn und diese Portugiesen durchsetzen kann, dann ist auch für uns alles möglich.
ran: Egal, wie die deutsche Elf am Ende abschneidet, der DFB wird so schnell wohl nicht zur Ruhe kommen. Ist es allein mit einem neuen Präsidenten getan, oder müssen auch die Strukturen erneuert werden?
Völler: Man muss zunächst unterscheiden zwischen den sportpolitischen und den rein sportlichen Aspekten. Und da, beim reinen Sport, haben wir in Sachen Jugendarbeit einen deutlichen Nachholbedarf. Ob U21, U20 und so weiter - man hat das Gefühl, dass es nach unten immer dünner wird, was Top-Talente betrifft. Da muss dringend nachjustiert werden, um den Anschluss an die Engländer, vor allem aber an die Franzosen wiederherzustellen, bei denen man das Gefühl hat, dass Top-Talent auf Top-Talent folgt.
ran: Und was muss intern geschehen, wäre weibliche Intuition einen Versuch wert, bzw. halten Sie eine Frau für möglich an der Spitze des DFB?
Völler: Die Frage, ob Frau oder Mann, sehe ich völlig gelassen. Ganz unabhängig davon, ob man für oder gegen eine Frauenquote ist, geht es mir einzig und allein um fachliche und moralische Kompetenz. Und wenn eine Frau das leisten kann - warum nicht! Es gibt durchaus Frauen mit solchen Qualitäten im Fußball. Ich habe zuletzt häufiger mit der amtierenden Generalsekretärin des DFB, Heike Ullrich, gesprochen, die für mich der beste Beweis ist, dass sich auch Frauen im Haifischbecken Männer-Fußball durchsetzen können. Ebenso kann ich mir aber auch vorstellen, dass man vielleicht einmal außerhalb der Fußball-Familie, in der Politik oder der freien Wirtschaft schaut. Wobei eine grundsätzliche Fußball-Affinität natürlich gegeben sein muss.
ran: Sie haben schon gesagt, dass Sie nicht zur Verfügung stehen würden, dabei verbinden viele Fans mit Ihnen immer noch eine heile Welt des Fußballs und eine gewisse Romantik. Muss man sich von alle dem jetzt, da auch für Trainer hohe Ablösesummen gezahlt werden, verabschieden?
Völler: Einmal ganz davon abgesehen, dass der Trainer einer der wichtigsten Funktionsträger im Verein ist, scheint die Ablösesumme für Julian Nagelsmann, bei der man wohl von einem Weltrekord sprechen könnte, zunächst natürlich spektakulär. Letztlich ist auch das eine Folge des Dominoeffekts, den die Ankündigungen von Jogi Löw, nach der EM aufzuhören, und von Marco Rose, zu Borussia Dortmund zu wechseln, ausgelöst haben. Ich könnte mir auch vorstellen, dass niemand in Frankfurt realistisch damit gerechnet hatte, dass jemand die damals für Adi Hütter festgeschriebene Ablösesumme wirklich zahlen würde. In diesem Jahr war es so. Aber ich glaube, dass sich das in dieser Ausprägung auch wieder beruhigen wird.
ran: Okay, bleiben wir bei Julian Nagelsmann. Er und Hansi Flick hatten keine Ausstiegsklausel, sondern sind - man kann es so hart sagen - vertragsbrüchig geworden, indem sie aus einem laufenden Vertrag ausgestiegen sind. Ist damit der Gedanke von Protagonisten im Fußball als gesellschaftliches Vorbild endgültig passe?
Völler: Hansi Flick ist sicherlich ein Sonderfall. Er hatte bei Bayern herausragende anderthalb Jahre und hat alles gewonnen, was es zu gewinnen gab. Hätte Hansi gesagt, dass es ihm reicht in München und er zu einem anderen Klub möchte, dann hätten die Bayern es ihm wohl nicht so einfach gemacht. Dass man seinem Wunsch nachgekommen ist, hängt ausschließlich damit zusammen, dass es von Anfang an um die Position als Bundestrainer ging. Alles Spekulationen über irgendwelche anderen Vereine waren doch nur Spielereien. Hansi ist eine super Lösung für den DFB, und die Bayern bekommen mit Julian Nagelsmann den Trainer, den sie ohnehin irgendwann wollten, nun einige Jahre früher als geplant. Und alle sind happy - wobei ... ob die Leipziger wirklich happy sind, weiß ich so genau nicht.
ran: Auch Bayer wird mit einem neuen Trainer in die nächste Saison gehen. Warum ist Gerardo Seoane jetzt der Richtige?
Völler: Wir haben nach einer sehr guten Hinrunde eine schlechte Rückserie runde gespielt und in der Rückrundentabelle Platz zwölf belegt, zudem sind wir im DFB-Pokal in Essen rausgeflogen und in der Europa League im Sechzehntelfinale an Bern und Gerry Seoane gescheitert. Nur weil wir wenigstens noch den sechsten Gesamtrang erreichen konnten, haben wir die Saison zum Ende hin einigermaßen gerettet. Unser Ziel war aber die Champions League, und daran wird sich auch in der nächsten Saison nichts ändern. Auch wenn es wieder schwierig wird, sind wir sicher, dass wir dieses Ziel mit Gerry erreichen können. Nicht nur, weil er mit Bern dreimal hintereinander Meister geworden ist. Gerade auch die Art und Weise, wie ihm das gelungen ist und wie sein Team in der Europa League gegen uns aufgetreten ist, hat uns davon überzeugt, dass er für uns die absolute Top-Lösung ist.
ran: Bayers Trainer hatten in den vergangenen Jahren eine durchschnittliche Halbwertszeit von 20 Monaten. Warum ist es so schwierig, den passenden Mann zu finden, der auch mittelfristig etwas aufbauen kann?
Völler: Weil die Erwartungshaltung bei jedem Verein sehr hoch ist. Bei Bayern München zum Beispiel kann selbst ein Meister-Titel zu wenig sein, wie Niko Kovac erleben musste. Jeder Verein hat seine Ziele, was aber zwangsläufig bedeutet, dass nicht jeder seine Ziele erreichen kann. Wenn sechs Mannschaften in die Champions League wollen, bleiben zwei auf der Strecke. Genauso verhält es sich im Prinzip mit der Europa League und mit dem Kampf gegen den Abstieg. Die Folge ist, dass es nach sechs, sieben Spielen bereits die ersten zwei oder drei Krisenherde in der Liga gibt. Das ist ganz einfach so in diesem mittlerweile hysterischen Profifußball-Geschäft.
ran: Borussia Mönchengladbach zum Beispiel versucht einen anderen Weg zu gehen.
Völler: Auch Werder Bremen hat versucht, seiner Linie treu zu bleiben. Am Ende aber ist man dafür kritisiert worden, dass man sich nicht früher von Florian Kohfeldt getrennt hat. Wo liegt letztendlich also die Wahrheit? Es ist nun mal so, dass wir alle vom Tabellenplatz abhängig sind. Zugegeben, die vergangene Saison war schon extrem. Ich weiß nicht, ob es das schon mal gegeben hat, dass von den ersten acht der Tabelle nur ein einziger Verein, Union Berlin, mit demselben Trainer in die nächste Saison gehen wird.
ran: Am Ende der nächsten Saison hören Sie nach insgesamt knapp 30 Jahren in Leverkusen auf. Da passt es, dass man Sie gerade in die "Hall Of Fame des deutschen Fußballs" hat.
Völler: Ich gehe eigentlich sehr sparsam mit dem Begriff "Stolz" um, aber in diesem Fall wehre ich mich nicht dagegen. Ganz einfach, weil Deutschland ähnlich wie Brasilien oder Italien eine Fußballnation ist. Wir haben über viele Generationen hinweg Weltklasse-Spieler hervorgebracht. Jetzt schon, mit zarten 61 Jahren, zur "Hall of Fame" zu gehören, ist etwas ganz Besonderes. Im Übrigen gehört für mich längst auch Karl-Heinz Rummenigge dazu als einer der weltbesten Stürmer seiner Zeit. Ihn sollte man schnellstmöglich aufnehmen. Er hat es verdient. Ich hatte das große Glück, mit ihm in den letzten Jahren seiner Karriere noch viele Länderspiele zu bestreiten, eine EM und eine WM. Er war ein Weltstar.
ran: Sie sprechen Karl-Heinz Rummenigge selbst an: Er hört nun etwas überraschend schon Ende des Monats beim FC Bayern auf und wird die Geschäfte vorzeitig an Oliver Kahn übergeben. Wie beurteilen Sie das?
Völler: Ehrlich gesagt überrascht es mich nicht wirklich. Kalle ist nicht der Typ, der etwas unnötig in die Länge zieht, wenn alles perfekt geregelt und auf die Zukunft ausgerichtet ist. Dieses halbe Jahr schenkt er sich selbst und gibt Oliver Kahn die Chance, sich frühzeitig zu bewähren. Was bleibt ist die Tatsache, dass Kalle zuerst als Spieler und anschließend als Vorstandschef des FC Bayern Überragendes geleistet hat.
ran: Für Karl-Heiz Rummenigge stellt sich die Frage ab sofort, für Sie dann in einem Jahr: Was werden Sie anstellen mit Ihrer neuen Freiheit, zieht es Sie Ihrer Frau zuliebe, die Römerin ist, vielleicht wieder nach Rom?
Völler: Dass ich in einem Jahr aufhören würde, stand für mich schon ein bisschen länger fest. Angst, dass ich nichts finden könnte, mit dem ich mich beschäftigen kann, habe ich deswegen gewiss nicht. Auf jeden Fall bin ich sehr dankbar, dass meine letzte Saison wohl wieder eine mit Zuschauern sein wird. Der Fußball braucht diese Emotionen. Ich glaube, da spreche ich für uns alle.
Das Interview führte Andreas Kötter
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