Luft nach oben
RB Leipzig: Der ungeliebte Herbstmeister
- Aktualisiert: 21.12.2019
- 20:40 Uhr
- ran.de / Andreas Reiners
RB Leipzig ist erstmals Herbstmeister der Bundesliga. Für viele Fans ist das schlimmer als zum x-ten Mal der FC Bayern, denn RB polarisiert. Im Erfolg noch mehr als sowieso schon.
München/Leipzig - Man kann es als Drohung auffassen. Auch wenn es nicht so gemeint ist. Zumindest nicht in erster Linie. Doch unter dem Strich ist es natürlich eine. Nach dem Motto: Das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange. Noch lange nicht.
RB Leipzig ist das erste Mal in der kurzen und speziellen Vereinsgeschichte Herbstmeister. Es ist das i-Tüpfelchen auf eine starke Hinrunde, in der die Mannschaft in der ersten Saison unter Trainer Julian Nagelsmann wichtige Entwicklungsschritte gemacht hat.
"Haben noch Entwicklungspotenzial"
Nagelsmann hatte noch vor dem 3:1 am 17. Spieltag gegen den FC Augsburg "den ein oder anderen Entwicklungsschritt" angekündigt. Seine Mannschaft habe noch "viel Luft nach oben", sagte der 32-Jährige: "Wir wissen, dass wir noch nicht fertig sind. Wir haben noch Entwicklungspotenzial."
Die von Nagelsmann angesprochenen Schritte sind vor allem notwendige Schritte, denn nach dem 3:3 am vergangenen Dienstag bei Borussia Dortmund betonte der Coach, man stehe zu Recht dort, wo man stehe, sei aber auf lange Sicht kein Titelkandidat. Starke Sprinter, aber die Saison ist ja nun mal ein Marathon.
Denn gegen die Topteams wie den BVB oder auch den FC Bayern (1:1) gab es keine Siege. "Wir müssen Schritte machen, weil wir irgendwann gegen diese Teams gewinnen müssen. Sonst wird es schwer am Ende vor denen zu stehen", so Nagelsmann.
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Historisch und polarisierend
Doch auch wenn die Statistik sagt, dass der Herbstmeister bislang in 66 Prozent der Fälle auch am Ende vorne stand, ist das Erreichte schon jetzt historisch. Beeindruckend.
Und immer noch polarisierend.
Mit enormem Tempo- und Hurra-Fußball, wie es zum Beispiel mindestens drei Tore in jedem der letzten acht Spiele belegen, Spektakel und kindlicher Lust aufs Kicken gibt es viele Gründe, der Ästhetik und Faszination des Leipziger Fußballs zu erliegen. Ihn zu feiern.
Wie auch den Weg des Klubs, den der Verein zuletzt auf Twitter feierte. Den Aufstieg vom Oberliga-Meister 2009 zum Gruppensieger der Champions League 2019.
Hinzu kommt: Erstmals seit 2009 lautet der Herbstmeister nicht FC Bayern oder Borussia Dortmund. Jahrelang wurde ob der Eintönigkeit geflucht.
Aber: Die Freude außerhalb Leipzigs über mehr Abwechslung im deutschen Fußball hält sich in sehr engen Grenzen. Freundlich ausgedrückt.
Ernsthaft? Jetzt gibt es endlich Abwechslung, dazu nüchtern betrachtet auch noch eine fußballerisch attraktive, und dann ist es auch wieder nicht gut?
Genau.
Für oben genannten Tweet erhielt RB eine Menge Gegenwind, denn das Märchen beziehungsweise das #GemeinsamGroßWerden kam natürlich vor allem auch durch Brause-Millionen und einem oft kritisierten Transfer-Konstrukt mit Schwester-Klub RB Salzburg zustande.
Es gibt aus Fan-Sicht deutlich mehr Argumente dagegen als dafür, weshalb sich an dem ganzen Projekt seit Jahren zig Millionen Fußball-Romantiker im Land abarbeiten, mal konstruktiv kritisieren, meistens aber laut und destruktiv gegen den aus ihrer Sicht albernen Unsinn schießen, einen künstlich hochgezüchteten Klub als Nonplusultra abzufeiern, als Zukunft des Fußballs.
Totengräber des Fußballs
Sie sehen RB als Totengräber. Dann doch lieber zum x-ten Mal die Bayern als die als Feindbild manifestierte Wurzel allen Kommerz-Übels. Identität? Hat man keine. Tradition? Noch weniger.
Es wirkt dann wie der Trotz eines gallischen Dorfs, wenn wie nach dem Gewinn des inoffiziellen Herbstmeistertitels das Stadion singt: "Wir sind Leipzig, Rasenballsport Leipzig. Rot-Weiß sind unsere Farben, wir werden niemals untergehen". Arm in Arm die Spieler, zusammen mit einem Kinderchor.
Was die Kritiker darin sehen: Das immer noch bemühte "Rasenballsport" statt das Kind beim Namen, also Red Bull zu nennen, diese Schönfärberei bringt sie heute noch auf die Palme.
Die "Zeit" hatte unter der Woche in dem Artikel "Elf Freunde" versucht, sich den fraglos vorhandenen Vorzügen des Klubs sachlich zu nähern. Es wird zum Beispiel darauf verwiesen, dass sich seit Jahren ein fester Kern gebildet hat, ein Stamm an Leistungsträgern, ein Kollektiv, das ohne die ganz großen Stars auskommt und durch "Scouting mit Weitsicht" etabliert hat.
Es lebe der Geist der Elf Freunde und das sei dann ja auch durchaus romantisch, heißt es unter anderem. Keine Frage: Millionen hin oder her, man muss die Möglichkeiten auch erst einmal (aus)nutzen.
Fakt ist: Die Herbstmeisterschaft ist verdient. An der Tatsache, dass der Verein weiterhin polarisieren wird, ändert das nichts. Auch der ansehnliche Job, den die Mannschaft verrichtet, wird die Kritiker nicht überzeugen. Es ist ein ungeliebter Herbstmeister. Und man muss sich nichts vormachen: RB wird auch ein ungeliebter Meister sein. Und auch das ist eher freundlich formuliert.
Dann eben weiter als Gallier. Sportdirektor Markus Krösche brachte es auf den Punkt: "Wir haben es über die letzten Wochen verdient, wir waren konstant und haben gute Spiele gemacht, das waren überzeugende Wochen."
Timo Werner betonte, dass Platz eins zur Winterpause für die Geschichte des Vereins etwas Besonderes sei: "Das ist der Weg, wo wir hinwollen. Es ist unsere Stärke, dass wir nach Rückständen zurückkommen. Das ist unsere Mentalität, die uns da hingebracht hat, wo wir sind."
Und da wollen sie auch nicht mehr weg.
Auch Werner "droht"
Werner grinst, als er auf die Ansage seines Trainers angesprochen wird. "Viele Mannschaften wissen gar nicht, was in uns steckt. Wir können noch viel mehr, haben in der Defensive mehr Potenzial. Wenn wir das abrufen, können wir auch am Ende da stehen, wo wir jetzt stehen."
Noch so eine Drohung. Doch Feinde des traditionellen Fußball-Bildes hin oder her: Man muss sie ernst nehmen.
Denn auch die Kritiker wissen: Für das Projekt Leipzig ist es noch nicht das Ende der Fahnenstange. Noch lange nicht.
Andreas Reiners
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