Drei Tore in K.o.-Spielen aufgelegt
EM 2021: Englands Luke Shaw - vom Himmel in die Hölle und zurück
- Aktualisiert: 07.07.2021
- 13:35 Uhr
- ran.de / Marcus Giebel
England träumt. England feiert. England glaubt an den Titel bei dieser EM. Dabei gehören die Schlagzeilen oft Harry Kane, Raheem Sterling oder den anderen Offensivstars. Die größte Geschichte schreibt aber Luke Shaw. Und irgendwie hängt auch Jose Mourinho mittendrin.
München - Es muss Jose Mourinho einiges an Überwindung gekostet haben, diesen Satz zu formulieren und auch noch auszusprechen. Aber letztlich kamen ihm die Worte dann doch über die Lippen.
Also betonte "The Special One" im Radiosender "Talksport": "Luke Shaw spielt besser und besser und besser." Nach dem aufsehenerregenden 4:0 der Engländer über die Ukraine in einem einseitigen EM-Viertelfinale lässt sich das kaum bestreiten.
Mourinho nahm Shaw mehrmals aufs Korn
Für den englischen Linksverteidiger, der im Stadio Olimpico von Rom unermüdlich ankurbelte, war es aber auch ein persönlicher Erfolg über "Mou". Der war einst sein Trainer bei Manchester United und seither einer seiner größten Kritiker. Um es mal vorsichtig auszudrücken.
Denn während der gemeinsamen Zeit beim englischen Rekordmeister sprach der Portugiese dem Linksfuß quasi alle Fähigkeiten für eine Profikarriere ab. So frotzelte er einst wenig empathisch: "Der kann nicht mal den Weg von seinem Bett zur Toilette zurücklegen, ohne sich das Bein zu brechen."
"Habe für ihn gedacht"
Unter dem Trainerstar bekam Shaw tatsächlich kaum ein Bein auf den Boden. Und wenn er dann doch mal überzeugte, wie bei einem 1:1 gegen den FC Everton bremste Mourinho jegliche Euphorie ein.
"Ich habe für ihn gedacht, ich habe seine Leistung angeleitet. Ich habe jede einzelne Entscheidung für ihn getroffen. Hätte er auf der anderen Spielfeldseite gespielt, wäre das nicht möglich gewesen", machte er seinen Spieler in aller Öffentlichkeit geradezu lächerlich.
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Mourinho stichelt auch bei der EM
Auch bei dieser EM war Mourinho bislang kein Fan von Shaw. Noch vor wenigen Tagen schimpfte er über den Blondschopf: "Meiner Meinung nach ist er nicht der Typ für Standardsituationen oder jemand, der im Strafraum Kopfballduelle gewinnt. Er ist sehr schnell und sollte daher bei Ecken hinten bleiben, um Gegenangriffe zu unterbinden."
Warum Mourinho ausgerechnet seinen ehemaligen Schützling ins Visier nahm? Gerade zu einem Zeitpunkt, als die ganze Mannschaft noch nicht wirklich überzeugte. Das kann sich auch der Attackierte nicht erklären: "Ich kann das nicht verstehen. Ich weiß nicht, warum er immer noch damit weitermacht und auf mich losgeht."
Tore von Maguire, Kane und Sterling vorbereitet
Doch beirren ließ sich der 25-Jährige davon nicht. Vielleicht hat ihn diese Kritik sogar besonders angestachelt. Jedenfalls legte er am Samstagabend das 2:0 und 3:0 vor, womit sich das Tor zur Rückkehr ins Wembley-Stadion weit öffnete. Binnen vier Minuten fand zunächst ein Freistoß den Kopf von Abwehrchef Harry Maguire, dann eine Bilderbuch-Flanke den Schädel von Kapitän Harry Kane. Eine kleine Shaw-Show.
Bereits beim 2:0 über Deutschland im Achtelfinale hatte Shaw mit seiner scharfen Hereingabe auf Raheem Sterling zum 1:0 den Türöffner gespielt. Er belebt Englands Außenbahnen. Wird in Anlehnung an eine brasilianische Legende schon "Shawberto Carlos" gerufen.
Zweitbester Assistgeber dieser EM
Drei Assists hat Shaw, dem bei United eine vorzeitige Vertragsverlängerung winken soll, nun bei diesem Turnier gesammelt. Nur der Schweizer Steven Zuber von Eintracht Frankfurt legte ein Tor mehr auf. Und: Einzig David Beckham bereitete im Trikot der "Three Lions" mehr EM-Treffer vor.
So schnell kann man in historische Sphären vorstoßen. Davon wagte Shaw vor wenigen Monaten wohl nicht einmal zu träumen. Er zählt zu den Akteuren, denen die Verschiebung der EM infolge der Corona-Pandemie in die Karten spielte.
Doppelter Schienbeinbruch in Champions-League-Spiel
Denn Shaw durchlebte schwere Jahre, schmerzhafte Zeiten. Stichwort: Beinbruch. Mourinhos Satz mit dem Toilettengang war nämlich nicht nur wenig lustig, sondern in diesem Fall auch makaber.
Es war der 15. September 2015, im Champions-League-Spiel mit Manchester United bei der PSV Eindhoven, als nach einem heftigen Einsteigen von Hector Moreno das Bein und damit auch die Karriere von Shaw in Trümmern zu liegen schien. Diagnose: doppelter Schienbeinbruch.
Länderspieldebüt mit 18 Jahren
Der so rasant in Europas Top-Klasse der Außenverteidiger vorgepreschte Engländer war auf einen Schlag ausgebremst. Bereits anderthalb Jahre zuvor hatte Shaw sein Länderspieldebüt gegeben. Roy Hodgson wechselte den damals 18-Jährigen für Ashley Cole ein.
Noch vor seinem 19. Geburtstag soll Manchester United umgerechnet 37,5 Millionen Euro an den FC Southampton überwiesen und damit anderen Top-Klubs wie Manchester City, dem FC Arsenal und dem FC Chelsea zuvorgekommen sein. Der Himmel schien Shaw offen zu stehen. Doch zunächst musste er durch die Hölle gehen.
Unter Mourinho nur 42 Partien in zwei Jahren
Nach der schweren Verletzung verpasste er den Rest der Saison. Als die nächste Spielzeit anbrach, hieß der Teammanager der "Red Devils" nicht mehr Louis van Gaal, sondern Mourinho. Der - wie gesagt - alles andere als ein Förderer von Shaw wurde.
2016/2017 und 2017/2018 absolvierte der Linksverteidiger wettbewerbsübergreifend jeweils nur 19 beziehungsweise 23 Spiele. Was auch an zahlreichen weiteren Verletzungen lag. Womöglich war Mourinho auch davon besonders genervt, nie wirklich lange mit dem Youngster planen zu können.
Umbruch der "Three Lions" ging an Shaw vorbei
Im Nationalteam, für das Shaw bis zu seinem Beinbruch sechsmal zum Einsatz gekommen war, musste er sich ebenfalls ganz weit hinten anstellen. Ausgerechnet in den Jahren, als der Umbruch vorangetrieben wurde und er angesichts seines Alters zu einer Stütze der neuen Generation hätte aufsteigen können.
So durfte sich Shaw bei Gareth Southgates Debüt nach dessen Aufstieg vom Interims- zum Cheftrainer beim 0:1 gegen Deutschland in der Schlussphase zurückmelden. Anschließend stand er bis zum Frühjahr 2021 allerdings nur noch dreimal im Kader und lief ein einziges Mal auf.
Erst seit dem Frühjahr wieder regelmäßig nominiert
Eine EM 2020 hätte also ganz sicher ohne Shaw stattgefunden. Denn irgendwas war in den vergangenen Jahren immer: Leiste, Fuß, Oberschenkel oder Knöchel schmerzten, eine Gehirnerschütterung erzwang eine kurze Auszeit.
Im Frühjahr dann durfte sich das Stehaufmännchen urplötzlich wieder beweisen. Quasi als Lohn für all die Mühen. "Es gibt einiges, was ich sehr bereue, gerade die Fehler in Bezug auf die Nationalmannschaft, und dass ich Gareth enttäuscht habe", gelobte Shaw nach seiner Nominierung Besserung mit Blick auf die immer wieder auftretenden körperlichen Probleme.
Seit Schottland-Spiel hinten links gesetzt
Ben Chillwell und Kieran Trippier schienen damals im Rennen um die Linksverteidiger-Position enteilt. Letzterer stand auch beim EM-Auftakt gegen Kroatien (1:0) in der Startelf. Aber seit dem folgenden "Battle of Britain" gegen Schottland, das torlos und damit sehr enttäuschend endete, setzt Southgate auf Shaw.
Für den kam dieses Turnier im Grunde aus heiterem Himmel. Seit Jahresbeginn ist er verletzungsfrei. Ein wahrer Segen nach den vergangenen Jahren. Mittlerweile würde nicht einmal mehr Mourinho eine Diskussion über die Besetzung der Position in Southgates Team lostreten.
"Mourinho war Shaws perönliches Pech"
"Der Luke Shaw, den wir bei diesem Turnier sehen, ist der gleiche Spieler, dem die Fußballwelt 2014 zu Füßen lag, als er bei Manchester United unterschrieb", frohlockt der Journalist Ian Herbert von der "Daily Mail": "Damals war er ein Teenager, der den richtigen Trainer brauchte, doch es war sein persönliches Pech, stattdessen auf Louis van Gaal und Jose Mourinho getroffen zu sein."
Nun spielt Shaw für zwei junge Trainer, die offenbar eher das Gespür dafür haben, ihn zu Höchstleistungen anzutreiben. "BBC"-Experte Alan Shearer nimmt neben Southgate auch United-Coach Ole Gunnar Solskjaer mit ins Boot, wenn er feststellt: "Es geht darum, dass die Menschen an dich glauben und dir Vertrauen schenken. Das erlebt er nun im Klub und im Nationalteam."
"Bei Shaw hat es klick gemacht"
Frank Lampard, ein anderer Ex-Nationalspieler, der erfolglos nach WM- und EM-Titel strebte und nun ebenfalls für die "BBC" arbeitet, betont: "Bei ihm hat es in den vergangenen 18 Monaten klick gemacht. Jetzt zeigt er das, was von ihm verlangt wird."
Das präzisiert Rio Ferdinand, der dritte "BBC"-Mann im Bunde: "Das fängt damit an, dass er den Ball zurückerobern will. Er ist zur Stelle, wenn es hinten gefährlich wird, agiert mutig und übernimmt Standards in wichtigen Situationen."
Shaw steht erst bei 14 Länderspielen
Selbstverständlich ist das alles aber keineswegs. Sondern irgendwie schon ein modernes Fußball-Märchen inmitten vieler herzerwärmender Geschichten bei diesem Turnier.
Denn aufgrund der vielen Rückschläge war die Partie gegen die Ukraine erst Shaws 14. im Nationaltrikot. Bis zu dieser EM absolvierte er überhaupt nur einmal zwei Länderspiele nacheinander.
Diese persönliche Bestmarke ist längst pulverisiert. Im Halbfinale gegen Dänemark (Mi., ab 21 Uhr im Liveticker auf ran.de) wird der gebürtige Londoner aller Voraussicht nach schon zum fünften Mal am Stück beginnen. Sowas nennt man Comeback-King!
Shaw hat am Tag nach dem Finale Grund zum Feiern
Erst jetzt scheint das einstige Megatalent wirklich zeigen zu können, was in ihm steckt. Sein höchstes Level dürfte Shaw aber noch längst nicht erreicht haben. Am Tag nach dem Finale wird er gerade einmal 26 Jahre alt, viele Karrieren nehmen erst zu diesem Zeitpunkt an Fahrt auf.
Und wer weiß: Vielleicht hat dann ganz England etwas zu feiern. Shaw hätte natürlich nichts einzuwenden gegen eine Party auf Londons Straßen mit Zehntausenden. Und der EM-Trophäe als Special Guest.
Marcus Giebel
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