Eröffnungszeremonie der WM 2022: "Fußball Morgana" in Katar
- Aktualisiert: 21.11.2022
- 19:22 Uhr
Eine Gastarbeitertraube vor Fernsehern eines Fünf-Sterne-Hotels, eine fast leergefegte Altstadt, die gar keine ist und eine Küstenpromenade, auf der eine DJane mit indigenem Kopfschmuck Waka Waka auflegt: Die WM in Katar wirkt wie ein gigantisches Trugbild in der Wüste. Eindrücke aus Doha und dem Gastgeberland aus den Stunden vor und während des Eröffnungsspiels.
Aus Katar berichtet Maik Rosner
Doha - Plötzlich wird es laut, eine Gruppe von Männern bewegt sich zu psychedelisch anmutender Musik tanzend auf Dohas Corniche entlang.
Wegen der Fußball-WM ist die Küstenpromenade von Katars Hauptstadt besonders festlich geschmückt. Im Hintergrund sieht man die bunt beleuchteten und glitzernden Hochglanzfassaden der Wolkenkratzer, vor einem tanzen diese Männer unter Lichterketten. Sie wirken wie in Trance. Einige tragen Fußball-Trikots aus aller Herren Länder, einer sogar sämtliche Flaggen der 32 WM-Teilnehmerländer an seinem Hut.
Der Mann mit dem Flaggen-Hut scheint der Vortänzer zu sein, alle anderen Männer scharen sich um ihn. Ihre Ausgelassenheit wirkt ansteckend. Viele Schaulustige filmen die Szenerie mit ihren Handys und verbreiten die Videos vermutlich in den sozialen Netzwerken und damit rasend schnell in der ganzen Welt.
Was bei den Empfängern ankommt: Das ist ja richtig was los in Doha, was für eine Partystimmung! Ist vielleicht genau das der Sinn dieser Tanzdarbietung? Sollen die Männer für schöne Bilder und besondere Eindrücke sorgen? Oder sind sie gerade ehrlich so begeistert, dass die WM an diesem Sonntagabend mit dem Spiel zwischen Gastgeber Katar und Ecuador eröffnet wird?
Die WM erscheint wie ein Trugbild in der Wüste
Es sind derartige Fragen, die man sich hier ständig stellt. Immer wieder geht es um die zentrale Frage: Was ist echt und was inszeniert? Vieles, was man hier zu sehen bekommt, kann man kaum glauben. Manches, weil es offensichtlich nicht der Wahrheit entspricht. Anderes, weil es zwar real ist, aber trotzdem unfassbar wirkt. Das gilt auch für diese WM insgesamt.
Sie erscheint wie ein gigantisches Trugbild in der Wüste, wie eine Fata Morgana. Oder eher wie eine Fifa Morgana oder noch eher wie eine Fußball Morgana, weil ja alle mitgemacht haben, weit über den Weltverband hinaus. Es ging bis ganz nach oben in der Politik und sogar Justiz, in Europa und in den USA.
Vor Ort kommt es einem erst recht unglaublich vor, dass die WM 2010 an Katar vergeben wurde, ursprünglich sogar als Sommer-Turnier, wenn die Temperaturen in dem Emirat 50 Grad Celsius und mehr erreichen können. Und dass die ganze Welt dieses Turnier ernsthaft abgenickt hat, oft genug in der Rolle als wohl fürstlich bezahlte Lobbyisten.
Auch diese Frage muss man sich hier in Doha unweigerlich stellen, während viel Kritik auf Katar einprasselt, unter anderem wegen der Menschenrechtssituation: Schauen hier nicht auch viele einflussreiche Menschen aus der westlichen Welt in einen Spiegel und müssten sie darin nicht die eigene Gier erblicken, die eigene Korrumpierbarkeit?
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Das Trainingsstadion der DFB-Elf sieht aus wie eine mittelalterliche Burg
Die ersten drei Fans, die man nach der Landung am Vorabend in Doha entdeckt hatte, begegneten einem in der von Gastarbeitern erbauten Metro und trugen Trikots sowie weitere Devotionalien aus Brasilien, Portugal und Argentinien. Die drei jungen Männer erzählten, sie seien Inder und lebten in Doha. Sie fügten sich ins Bild der Berichte über sogenannte Fake-Fans, die gegen Geld für Stimmung sorgen sollen.
Am nächsten Vormittag, am Tag des Eröffnungsspiels, ging es von Doha aus anderthalb Stunden mit dem Auto durch die flache Ödnis bis zum Trainingsstadion der deutschen Nationalelf. Das Stadion sieht aus wie eine Burg aus dem Mittelalter, es wurde aber erst 2011 erbaut. Auf dem Weg dorthin entdeckte man immer wieder Bauwerke und WM-Stadien, die in der Ferne, im Wüstenstaub der flirrenden Luft, aussehen wie Ufos. Oder ist man hier sogar auf einem anderen Planeten gelandet?
Es ist oft einfach nicht zu glauben, was man sieht, und das geht auch abends nach der Rückkehr beim Spaziergang durch Doha so weiter, während des Eröffnungsspiels.
Im Hotelviertel unweit von Katars National Museum ist es eine Stunde vor dem Anpfiff sehr ruhig. An einer Hotelfassade hängen zwei riesige, vielleicht 50 Meter lange Banner in den katarischen Landesfarben. WM-Euphorie durch Fans aus aller Welt? Gibt es hier aber nicht, weil man hier keine Fans sieht. Vermutlich, weil den meisten die Hotelpreise zu hoch waren. Auf dem Weg Richtung Corniche ändert sich das Bild.
Hotelpersonal drängt Gastarbeiter zurück
Vor dem Fünf-Sterne-Hotel Fraser Suites, in dem die Nacht vom 2. auf den 3. Dezember gerade für rund 1600 Euro zu haben wäre, steht eine Menschentraube. Es sind einige Dutzend Menschen, überwiegend Gastarbeiter, wie Mustefa Seld aus Addis Abeba in Äthiopien. Er ist mit einigen Freunden und Kollegen hier stehen geblieben. Sie schauen auf zwei Fernseher, die das Luxushotel für seine Gäste draußen im Sitzbereich aufgestellt hat.
Das Hotelpersonal drängt die Gastarbeiter zurück. Mustefa Seld sagt, es gehe ihm ganz gut in Katar, er arbeite in einem kleinen Laden. Aber er sagt auch schnell, dass er gerne nach Europa gehen würde und schreibt seine Telefonnummer auf. Er sagt, es wäre schön, wenn man ihm helfen könnte.
Etwas weiter beginnt die Corniche, hier ist richtig was los. Tausende Menschen flanieren über die Promenade. Eine riesige Leinwand wurde hier aufgebaut, vielleicht 80 Meter breit und 15 Meter hoch. Es läuft Werbung für Luxusartikel in gestochen scharfen Bilder. Miya Merajddin schaut gespannt auf die Leinwand und hofft, dass das Eröffnungsspiel gleich übertragen wird. Er sagt, er komme aus Nepal und ihm gehe es hier gut.
Ihm gefalle an Katar vor allem, dass es keine Kriminalität gebe. Er berichtet stolz davon, sogar eine Karte für ein WM-Spiel zu haben. Für welches? "Spiel 42", sagt Merajddin und muss überlegen, wer da eigentlich spielt. Kanada gegen Marokko, am 10. Dezember. Erst hätte das Ticket nur 40 Riyal gekostet, umgerechnet knapp elf Euro. Er habe es aber erst später erworben und 600 Riyal bezahlt, rund 160 Euro.
Als er vor fünf Jahren nach Katar gekommen sei, habe er anfangs 700 Riyal verdient, nach aktuellem Kurs 187 Euro. Pro Monat, versteht sich. Und Katar ist teuer, sehr teuer. Seit August 2020 liegt der offizielle Mindestlohn in Katar bei 1000 Riyal, das entspricht aktuell 268 Euro. Vorher gab es keinen Mindestlohn.
Fußballfans aus Europa sind die Ausnahme
Auf der Corniche schieben sich nun Menschenmassen entlang, auf dem Rasen am Rand sitzen Frauen und picknicken. Überall sind Shops und Attraktionen, an den Hochhausfassaden hängen riesige WM-Werbebanner. Hier kommen die Menschen, die in Katar leben, mit Touristen und internationalen Fans zusammen. Kurz vor dem Souq Waqif, dem Markt in der Altstadt, die gar keine Altstadt ist, sondern nachgebaut wurde, entdeckt man sogar zwei eindeutig echte Fans aus Wales.
Doch Fußball-Touristen aus Europa sind an diesem Abend in Doha eher die Ausnahme. Eher schon sieht man Südamerikaner und Afrikaner. Auch Menschen mit Flaggen Katars oder anderen Fanartikeln in den Landesfarben sieht man durchaus oft, vor allem Kinder. Was man auf der Corniche aber nicht sieht: Katarische Männer in ihren traditionellen weißen Gewändern.
Erst im Souq Waqif ändert sich das, zumindest sieht es so aus. Also rein in einen Schmuckshop, in dem drei Männer in weißen Gewändern stehen und auf ein Handy schauen, auf dem das Eröffnungsspiel läuft. Es ist das erste Mal, dass man hier jemanden Fußball gucken sieht. Öffentliche Fernseher sind im Souq nirgends zu entdecken, nicht einmal in den teuren Restaurants. Ecuadors Enner Valencia trifft jetzt per Foulelfmeter zum 0:1.
Die drei Männer in dem Schmuckshop nehmen es gelassen hin. Das liegt wohl daran, dass sie gar keine Katarer sind. Einer kommt aus Sri Lanka, die anderen beiden aus dem Jemen. Dass man an diesem Abend nur wenigen Katarern begegnet, liegt auch daran, dass sie nur rund zehn Prozent der knapp drei Millionen Einwohner des Landes ausmachen. Und vielleicht liegt es auch daran, dass sie zu Hause Fußball schauen.
Fans jubeln nach Aufforderung eines Journalisten
Begeisterung für diesen Sport gibt es hier ja durchaus. Im ziemlich leergefegten Souq spielt das Eröffnungsspiel aber so gut wie keine Rolle. Einmal abgesehen von den TV-Studios, die hier aufgebaut ist, um schöne Bilder von den neu errichteten Altstadtfassaden in alle Welt zu transportieren. Und abgesehen von den Kamerateams, die hier auf einem zentralen Platz im Souq stehen. Auf die Bitte eines Reporters hin fangen ein paar Fans an, zu singen und zu jubeln. Das gibt schöne Bilder.
Was für eine Stimmung, ganz schön was los in Katar! Auch so entsteht die Fußball Morgana.
Weiter geht's raus aus dem touristischen Teil Dohas, gezielt hinein in abseits gelegene Straßen. Gibt es vielleicht hier echte Fußballstimmung mit Katarern, die Fußball schauen? Man sieht nichts davon. Wenn nicht überall auf den Straßen Absperrungen mit Fifa-Werbung stünden, könnte man glatt vergessen, dass gerade das WM-Eröffnungsspiel läuft.
"Waka Waka" sorgt für Partystimmung
Kurz vor Ende der ersten Halbzeit also zurück dorthin, wo etwas los ist, zurück Richtung Corniche. Nun kommen einem Menschenmassen entgegen. Ecuadors Valencia hat inzwischen das 0:2 erzielt, Katars Mannschaft ist chancenlos. An der Corniche ist es längst deutlich leerer geworden.
Nur vor der einzigen Leinwand, auf der das Spiel läuft, stehen noch viele Menschen. Und vor einer Bühne, auf der eine westlich aussehende DJane auflegt. Ohne Kopftuch, dafür mit dem Federkopfschmuck eines indigenen Häuptlings aus Nordamerika. "Are you ready for party?" ruft sie den Menschen zu. Die Masse johlt. "Let's go", ruft die DJane und spielt jetzt, kein Witz, Waka Waka, den offiziellen Song der WM 2010 in Südafrika. "This time for Africa", singt Shakira in ihrem WM-Song.
Doch außer Weißen Elefanten, also teuren Stadien, die nun weitgehend ungenutzt in der Gegend rumstehen, ist Südafrika und dem ganzen Kontinent von der damaligen WM nicht viel geblieben. Was aus Katars acht WM-Stadien nach dem Turnier wird? Die Menge vor der Bühne stellt sich solche Fragen nicht. Sie johlt noch lauter vor Begeisterung, als Waka Waka erklingt. Fast ausnahmslos filmen die Menschen jetzt mit ihren Handys.
Wieder Hunderte von Videos mit schönen Bildern, die womöglich hunderttausendfach oder noch häufiger geteilt werden. Es ist genau das, was die Fifa liebt. Eine DJane ohne Kopftuch in Katar, begeisterte Menschen, was für eine Party! Nichts weniger als "the greatest show on earth" hatte Fifa-Präsident Gianni Infantino angekündigt, die großartigste Show auf Erden. Die größte hätte es besser getroffen, bei dieser Fußball Morgana, diesem Trugbild in der Wüste Katars.
Die Hotels wurden von Gastarbeitern gebaut, leisten können sie sich nicht
Ein paar hundert Meter weiter ist die riesige Leinwand, auf der die Luxusartikel vorhin mit gestochen scharfen Bildern beworben worden sind, längst dunkel. Das Spiel läuft hier nicht, wie von Tausenden Menschen erhofft, von Gastarbeitern wie Miya Merajddin aus Nepal, der sich das WM-Ticket für das Spiel 42 Kanada gegen Marokko für 160 Euro geleistet hat. Die Massen sind längst weg.
Und auch vorm Luxushotel Fraser Suites steht jetzt keine Menschentraube mehr, um Bilder von jenen Fernsehern zu erhaschen, die für die Hotelgäste aufgestellt worden sind. Das Hotelpersonal hat inzwischen Sichtschutzwände aufgebaut. Die Passanten, hauptsächlich Gastarbeiter, sollen die Gäste nicht stören. Diese WM ist mehr denn je auch eine Frage des Geldes.
Gebaut wurde die WM-Bühne, also die Stadien, die Metro, auch die Hotels und sonstigen Wolkenkratzer, ja eigentlich ganz Doha, von Gastarbeitern. In der sengenden Hitze Katars und für einen Monatslohn, mit dem man ungefähr ein halbes Jahr schuften müsste, um eine Nacht in diesem Hotel bezahlen zu können. Das Frühstück wäre dann immerhin inklusive.
Ganz am Ende des Spaziergangs durch Doha-City findet sich doch noch ein Fernseher, auf dem die Schlussphase des Eröffnungsspiels läuft. Der Fernseher steht in einem öffentlich zugänglichen Restaurant, das sich im Gebäude des sogenannten Tourist Hotels befindet. Vor dem Fernseher sitzen drei Männer, sonst sind alle Plätze leer. Das Hotel sei ausgebucht, sagt das Personal an der Rezeption.
Fußball-Fans sind in dem Hotel aber offenbar nicht oder kaum abgestiegen, jedenfalls hat man in den ersten beiden Tagen hier keine gesehen. Dafür wohnen hier während des Turniers vor allem Medienvertreter. Geht es nach der Fifa, dem Gastgeberland und den Sponsoren, sollen sie ebenfalls schöne WM-Bilder transportieren. In jene Welt, die in Katar auch in einen Spiegel schaut.