100 Tage vor der WM 2014 - die Brennpunkte im DFB-Kader
- Aktualisiert: 05.03.2014
- 09:32 Uhr
- ran.de / Tobias Hock
In 100 Tagen beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien. Bundestrainer Joachim Löw beruft für den Test gegen Chile vier Neulinge und macht damit deutlich: Es sind noch Plätze frei im DFB-Kader. Der Grund dafür ist einfach: In Richtung WM 2014 gibt es noch etliche Brennpunkte und ungeklärte Fragen in der Deutschen Nationalmannschaft. ran.de klärt auf.
München - Bundestrainer Joachim Löw setzt im Test der DFB-Elf gegen Chile gleich vier Neulinge ein. Eine Interpretationsmöglichkeit dieser Maßnahme lautet: Der Bundestrainer schont einige Spieler, die derzeit durch die Champions League stark beansprucht sind, oder gerade erst nach längeren Verletzungen zurückgekehrt sind.
Der wahre Grund ist ein anderer: Es gibt noch einige offene Baustellen und Brennpunkte im deutschen Team, die Löw mit allen Mitteln abarbeiten möchte.
Brennpunkt Sturm: Löw fehlen die Alternativen
Dem DFB fehlt derzeit ein echter Stürmer auf Weltklasse-Niveau. Seit Jahren streiten sich nur zwei Spieler um diese Position: Miroslav Klose (Lazio Rom) und Mario Gomez (AC Florenz). Beide spielen mittlerweile in der Serie A, die im internationalen Vergleich eher noch als "B-Klasse" gilt.
Das größere Problem: Beide waren längere Zeit verletzt und sind noch nicht wieder bei 100 Prozent. Gomez kommt in der kompletten Saison nur auf sechs Spiele und zwei Tore in der Liga. Klose erzielte in 19 Partien immerhin sechs Treffer. Im direkten Aufeinandertreffen am vergangenen Spieltag saßen Beide nur auf Tribüne.
Der Bundestrainer hat derzeit nur wenige Alternativen: Stefan Kießling passt weder ins Spielsystem, noch zu den Anforderungen einer WM und ist demnach außen vor. Löw hat also nur zwei Möglichkeiten: Entweder er vertraut neben Klose auf ein Spielsystem mit falschem Neuner (Götze oder Müller) oder er nimmt einen unerfahrenen, aber echten Stürmer wie Pierre-Michel Lasogga mit.
ran-Prognose: Sollte er verletzungsfrei bleiben, wird Klose sicher mit zur WM fahren. Dahinter ist alles offen. Trifft Lasogga in der Rückrunde weiter, ist er eine echte Alternative für Löw.
Physisch stark und durch den Abstiegskampf an Druck gewöhnt, hat er einen enormen Wettbewerbs-Vorteil: Er ist momentan der einzige seiner Art in der Bundesliga mit einem deutschen Pass. Flanke, Kopfball, Tor: Will sich Löw diese Option bewahren, muss er Lasogga mitnehmen.
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Brennpunkt Abwehr: Offene Außenbahnen
Das Abwehrzentrum ist Stand heute mit Jerome Boateng und Per Mertesacker solide besetzt. Dahinter sollte sich aber Mats Hummels nach Möglichkeit nicht mehr verletzen. Löw kann es sich erlauben, U-21-Spieler wie Shkodran Mustafi und Matthias Ginter gegen Chile für eine weitere Innenverteidiger-Stelle zu testen. Für den WM-Kader ist eine Nominierung von Benedikt Höwedes dennoch wahrscheinlicher - schließlich kann er auch Erfahrung als rechter Außenverteidiger nachweisen.
Hier offenbahrt sich die wahre Schwachstelle der deutschen Abwehr: Die Außenbahnen sind nur auf den ersten Blick gut besetzt. Philipp Lahm ist weltklasse. Marcel Schmelzer ist auf links zweimal Deutscher Meister geworden, stand vergangene Saison im Finale der Champions League und kann daher auch so schlecht nicht sein.
ABER: Lahm wurde beim FC Bayern von Pep Guardiola umgeschult und ist derzeit einer der besten Sechser Europas. Nachdem er schon einer der besten Linksverteidiger und einer der besten Rechtsverteidiger war. Das Problem dabei: Lahm sieht sich mittlerweile selbst viel lieber im Mittelfeld und könnte dort, angesichts der vielen Verletzten, auch als Stabilisator benötigt werden. Hinter Lahm bieten sich nur Notlösungen wie Höwedes oder Westermann an. Oder die BVB-Allzweckwaffe Kevin Großkreutz, die endlich Beachtung bei Löw findet.
Auf der linken Seite rennt Schmelzer nach längerer Verletzungspause in der Vorrunde seiner Form noch etwas hinterher. Wird er richtig fit, ist er gesetzt. Hinter ihm klafft die vielleicht größte Lücke im deutschen Kader. Angesichts der Alternativen wie Marcell Jansen oder Marcel Schäfer wünscht man sich fast, dass man Großkreutz zweimal mitnehmen könnte.
ran-Prognose: Großkreutz fährt auf jeden Fall mit nach Brasilien. Wird Lahm im Mittelfeld gebraucht, wird eine Dortmunder Außenverteidigung sehr wahrscheinlich. Aus Mangel an Alternativen, darf sich Marcell Jansen wohl Hoffnung machen.
Brennpunkt Verletzungen: das Loch im defensiven Mittelfeld
Gomez und Klose waren verletzt. Hummels und Schmelzer auch. Holger Badstuber fällt sowieso aus. Doch am schlimmsten von Verletzungen geplagt ist das Herzstück der deutschen Mannschaft. Im defensiven Mittelfeld fallen Ilkay Gündogan (seit August) und Sami Khedira (seit November) schon seit Monaten aus. Sven Bender muss aktuell zehn Wochen pausieren. Bastian Schweinsteiger kämpft sich gerade mühsam zurück in die Stammformation des FC Bayern - und irgendwie bangen auch nicht Bayern-Fans bei jedem Zweikampf um seinen empfindlichen Knöchel.
Diese vier Spieler standen vergangene Saison alle mindestens im Halbfinale der Champions League. Sie beackerten (Khedira, Bender) und bespielten (Schweinsteiger, Gündogan) die entscheidenden Meter auf dem Platz. Mit Toni Kroos und Lars Bender stehen zwar taugliche Alternativen bereit. Es erfordert jedoch nicht viel Phantasie, um zu erkennen, warum Lahm auch in der Nationalelf eine echte Alternative für die Mittelfeldposition ist.
ran-Prognose: Sven Bender und Bastian Schweinsteiger fahren mit nach Brasilien. Bei Khedira und Gündogan wird sich Löw sehr lange Zeit lassen und ihre Fitness evtl. erst im Trainingslager bewerten. Sollten sie nicht bei 100 Prozent sein, wird er maximal einen der beiden mit nach Brasilien mitnehmen. Für den anderen wird entweder Kroos oder Lahm auf der "Sechs" eingeplant.
Brennpunkt Form: Leistungsträger schwächeln
Mesut Özil ist seit der WM 2010 als Spielmacher beim DFB gesetzt. Er prägt das Offensiv-Spiel mit seinen Pässen und setzt Spieler wie Müller, Klose oder Reus erst in Szene. Im Moment spielt Özil beim FC Arsenal jedoch so, als würde ihm einfach die Kraft fehlen. Oder die Spielfreude. Oder die spanische Sonne. In den letzten Monaten erweckt Özil den Eindruck, als könne er im Sommer endlich mal eine Pause gebrauchen, aber bitte keine Weltmeisterschaft.
Ähnlich außer Form präsentiert sich in der Offensive Julian Draxler. Nun hat er beim DFB bislang nicht zu den Leistungsträgern gezählt, doch in Richtung WM hat man sich sicher mehr von ihm erwartet, als er in den letzten Wochen zeigen konnte.
Die Liste der außer Form geratenen Spieler lässt sich munter erweitern: von Lukas Podolski über Marco Reus, die mehrwöchige Pausen verdauen müssen, bis hin zu Sidney Sam oder Max Kruse, die noch vor einem halben Jahr auf einen Platz im Kader hoffen durften. Davon sind sie nun ebenso weit entfernt, wie der Hamburger SV von seinen Ansprüchen.
ran-Prognose: In der Offensive sind Müller und Götze gesetzt. Özil und Reus fahren selbstverständlich auch mit zur WM, ihr Potenzial einfach zu groß. Für das Duo Podolski/Draxler könnte es eng werden. Denn Andre Schürrle lässt sein Tief beim FC Chelsea gerade hinter sich und mit der Nominierung von Andre Hahn beweist Löw, dass er mehr Namen auf dem Zettel hat, als gedacht. Eine Überraschung in der Offensive ist durchaus denkbar, egal, ob diese Hahn, Gnabry oder Volland heißt.
Brennpunkt Ausgewogenheit: Die Mischung macht's
100 Tage vor der WM in Brasilien hat Joachim Löw keine echten Stürmer in körperlicher Top-Verfassung, Lücken in der Außenverteidigung und zahlreiche verletzte oder formschwache Spieler. Dafür präsentieren sich Kroos, Götze und Müller vom FC Bayern oder auch Mertesacker in London in WM-Form.
Das größte Problem wird für den Bundestrainer darin bestehen, die richtige Mischung im Kader zu finden.
Welchem erfahrenen Leistungsträger schenkt er trotz mäßiger Form das Vertrauen und wen opfert er für neue, hungrige Kräfte? Setzt er im Sturm auf eine falsche Neun oder auf einen echten Stürmer? Muss Kroos auf der "Sechs" aushelfen oder macht er Özil den Platz hinter der Spitze streitig und auf welcher Position wird Lahm am meisten gebraucht?
Mit seinem Kader für das Testspiel macht Löw zwei Sachen deutlich: Er wird nicht zurückscheuen, etablierte Spieler Zuhause zu lassen. Und es werden nicht mehr automatisch die besten Techniker nominiert: Kampf- und willensstarke Spieler wie Lasogga haben plötzlich eine reelle Chance auf eine WM-Teilnahme.
Die Brennpunkte sind erkannt. Der Bundestrainer erhöht den Druck. Der Countdown für Brasilien läuft. Löw selbst hat im Interview über das Chile-Spiel gesagt: "Danach läuft de Uhr rückwärts."