Olaf Thon im Interview
DFB-Team - Olaf Thon über Flicks-Bilanz: "Eine Serie, die dem deutschen Fußball unwürdig ist"
- Aktualisiert: 18.06.2023
- 19:29 Uhr
- ran.de
Olaf Thon schätzt die deutsche Nationalmannschaft im Moment als nicht konkurrenzfähig ein. Im Interview mit ran erklärt der Weltmeister von 1990, was sich beim DFB-Team ändern muss und was ihm Hoffnung macht.
Bei der Weltmeisterschaft 1990 spielte Olaf Thon mit der Nationalmannschaft in der Vorrunde 1:1 gegen Kolumbien, das DFB-Team gewann in Italien die Weltmeisterschaft.
Vor dem Testspiel gegen Kolumbien am Dienstag (20:45 Uhr im Liveticker auf ran.de) scheint die Mannschaft von Trainer Hansi Flick von solchen Erfolgen weit entfernt zu sein.
Nach dem 3:3 gegen die Ukraine und der 0:1-Niederlage im Testspiel in Polen am Freitag werden die Sorgen immer größer, dass der Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft im eigenen Land das nächste Debakel drohen könnte.
Im Interview mit ran spricht Olaf Thon über die Verfassung des DFB-Teams, die Bedeutung des Spiels gegen Kolumbien auf Schalke und Bundestrainer Hansi Flick.
ran: Olaf Thon, wie war Ihr Eindruck von den letzten beiden Länderspielen der Nationalmannschaft gegen die Ukraine und in Polen?
Olaf Thon: Unsere Nationalmannschaft ist aktuell nicht erstklassig. Einerseits kann man in den letzten drei Spielen der Saison nicht erwarten, dass ein Feuerwerk abgebrannt wird. Andererseits sind es die gleichen Voraussetzungen für alle. Alle haben eine harte Saison hinter sich. Ob es Lewandowski bei Barcelona ist, oder Kimmich bei Bayern München. Deshalb zählt diese Ausrede nicht. Von daher muss man wirklich sagen, dass die deutsche Mannschaft aktuell nicht konkurrenzfähig ist, um um den Titel 2024 mitzuspielen. Aber ich bin der Meinung, dass sich in einem Jahr viel tun kann. Im ganzen Land finden so langsam die Auftaktveranstaltungen für die EM statt und ich hoffe, dass wir an das Sommermärchen 2006 herankommen. Mit super Wetter, aber auch mit einer super Mannschaft, die vielleicht mehr versucht, über den Kampf zu kommen, als über das Spielerische.
ran: Haben Sie eine Erklärung für die schwachen Auftritte?
Thon: Es sind nicht nur die beiden Spiele, die wir gesehen haben. Man muss zwei Turniere zurückgehen. Hansi Flick hat von den letzten 15 Spielen nur vier gewonnen. Das ist eine Serie, die dem deutschen Fußball unwürdig ist. Das kann man sich vielleicht im Wasserball vorstellen, aber nicht im Fußball. Von daher kann niemand zufrieden sein. Nicht umsonst war Rudi Völler nach dem Spiel in Polen stinksauer und hat keine Interviews gegeben. Das kann man mal machen, aber auf Dauer muss man sich den Problemen stellen. Hansi Flick muss seine Dreierkette überdenken, er muss überdenken, ob das die richtigen Leute sind, die er da aufstellt. Ob das die Leute sind, mit denen er 2024 durchs Feuer gehen will.
ran: Beunruhigt Sie die Situation ziemlich genau ein Jahr vor Beginn der Europameisterschaft?
Thon: Ja. Wir sind ja fast lethargisch, ängstlich, dass wir ein Triple der Enttäuschungen schaffen. Das wäre ganz bitter. Wir können es uns nicht mehr erlauben, dass so eine Fußballnation wie Deutschland in der Vorrunde ausscheidet. Das ist blamabel.
ran: Nach der Niederlage gegen Polen hat Bastian Schweinsteiger gesagt, dass dies vielleicht auch einfach das aktuelle Leistungsniveau der deutschen Nationalmannschaft sei. Warum gelingen der DFB-Elf trotz vieler guter Spieler im Kader keine besseren Leistungen?
Thon: Das ist es, was ich mich frage, was sich Bastian Schweinsteiger und viele andere auch fragen. Warum kann man mit solchen Super-Talenten wie Havertz, Musiala und vielen anderen nicht erfolgreich Fußball spielen? Wir brauchen Individualisten, wir brauchen Mannschaftsspieler, wir brauchen ein gutes System und Spaß an der Sache. Was wir machen, ist kämpfen. Fußball kämpfen. Es ist keine Leichtigkeit da. Wir brauchen mehr Indianer und nicht nur Häuptlinge. Das ist so mein Gefühl. Ich hoffe darauf, dass Manuel Neuer der Kapitän und der Kopf der Mannschaft bei der Europameisterschaft sein kann. Er könnte für Stabilität sorgen. Aber wir brauchen unbedingt auch junge, dynamische Spieler, die über den Kampf und das mannschaftsdienliche kommen. Dann wäre schon viel gewonnen.
ran: Was muss Hansi Flick tun, um die Defensive zu stabilisieren?
Thon: Man muss flexibel sein, man kann sich nicht einfach auf ein System mit der Dreierkette festlegen. Man muss das von den Spielern abhängig machen, die man zur Verfügung hat. Und man muss variabel sein. Manchmal muss man sich auch nach dem Gegner richten, welche Spieler dieser zur Verfügung hat. Dann spielt man mit einer Dreier-, Vierer- oder Fünferkette. Da wünsche ich mir von Hansi Flick viel mehr Flexibilität. Die Spieler müssen mehr Freiheiten im Spiel bekommen und mutiger nach vorne spielen. Man muss den Gegner von Anfang an versuchen zu bekämpfen und nicht erst in der zweiten Halbzeit, wenn man wie im letzten Länderspiel in Polen zurückliegt. Es muss weh tun, gegen Deutschland zu spielen. Das war immer unsere Stärke. Man muss in der Defensive den Laden zusammenhalten und dann dem Gegner überfallartig weh tun. Das können wir im Moment nicht, daran müssen wir arbeiten.
ran: Hansi Flick hat in 23 Spielen 20 verschiedene Abwehrformationen aufgeboten. Ist es nachvollziehbar, dass der Bundestrainer immer weiter experimentiert?
Thon: Wir haben ein Turnier hinter uns, das unterste Schublade war. Dann ist es klar, dass man experimentiert und versucht, die Formation für die EM im eigenen Land zu finden. Das geht jetzt ruckzuck bis zur EM. Die nächsten Länderspiele sind im September, dann trifft man sich noch einmal im November und noch einmal im April, dann geht es schon wieder zur EM. Hansi Flick ist gut beraten, immer auf die Leute zu setzen, die aktuell gerade gut in Form sind. Vor allem muss er auf die jungen Talente wie beispielsweise Jamal Musiala bauen. Das wird er auch sicher tun.
ran: Wie wichtig ist jetzt ein Sieg gegen Kolumbien am Dienstag, um für ein wenig Ruhe zu sorgen?
Thon: Für mich persönlich ist das unwichtig. Die Spiele sind einfach schlecht terminiert. Trotzdem ist es besser, diese Spiele zu haben, als gar keine Länderspiele zu haben. Man kann schon ein bisschen am Teamspirit arbeiten, sich näher kennenlernen und auch mal ein Bier zusammen trinken. Dafür sind diese Länderspiele ganz gut. Sportlich haben diese Spiele keine große Gewichtung. Aber ein Sieg wäre natürlich ein schöner Abschluss. Ich kann mir vorstellen, dass Kolumbien jetzt nicht gerade erste Sahne ist und wir das Spiel klar gewinnen. Und da in Gelsenkirchen bei Schalke 04 gespielt wird, werden wir 4:0 gewinnen.
ran: Denken Sie, bei einem weiteren schlechten Spiel könnte es für Hansi Flick eng werden?
Thon: Nein. Rudi Völler wird eine ruhige Hand bewahren. Hansi Flick muss uns zur EM führen. Das ist alternativlos, egal was passiert. Jetzt darüber nachzudenken, nochmal zu wechseln, wäre kontraproduktiv. Das wäre Hire-and-Fire à la Bundesliga. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es zu solchen handwerklichen Fehler kommt, dass Rudi Völler oder DFB-Präsident Bernd Neuendorf über so etwas nachdenken. Oder dass Hansi Flick hinschmeißt. Da wäre ich auch auf keinen Fall dafür.
ran: Was macht Ihnen im Moment Hoffnung auf eine gute Europameisterschaft im nächsten Jahr?
Thon: Wir haben einfach gute Einzelspieler. Wenn die zueinanderfinden, wenn jeder für den anderen kämpft und nicht jeder meint, ein Häuptling sein zu müssen, haben wir durchaus gute Chancen, weit zu kommen.