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Motorsport Formel 1

Antonelli unter Beschuss: Warum Villeneuve keine Ausreden gelten lässt

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© Sutton Images

Jacques Villeneuve, das weiß man inzwischen als Formel-1-Fan, ist als TV-Experte ein durchaus streitbarer Charakter. Die einen lieben ihn dafür, dass er sich kein Blatt vor den Mund nimmt und die Dinge genau so ausspricht, wie er sie denkt, ohne Korrekturfilter. Die anderen verteufeln ihn dafür, dass er komplexe Sachverhalte manchmal simplifiziert und sich nicht immer die Mühe gibt, ein Thema von allen möglichen Perspektiven zu beleuchten.

Bei Mercedes hat Villeneuve in Zandvoort vermutlich eher keine neuen Freunde gewonnen. Schon vor dem Rennen sorgte er mit scharfer Kritik an Andrea Kimi Antonelli für Schlagzeilen, als er unter anderem sagte: Die Formel 1 ist "keine Schule. Du sollst ein paar harte Rennen haben und dich dann Schritt für Schritt steigern - so, wie es Bortoleto gemacht hat. Antonelli macht das nicht."

Im Rennen am Sonntag kollidierte Antonelli dann in der stark überhöhten Hugenholtzbocht mit Charles Leclerc, beim Versuch, den Ferrari unmittelbar nach dessen Boxenstopp zu überholen. Der 19-Jährige kassierte dafür zehn Sekunden Zeitstrafe und zwei Strafpunkte, und im Paddock war allen klar, dass es über die Schuldfrage keine zwei Meinungen geben konnte.

Villeneuve sieht sich in seiner Kritik bestätigt

Für Villeneuve ein Beleg für das, was er tags zuvor bei Sky gesagt hatte, nämlich dass Antonelli unterm Strich einfach noch nicht gut genug ist. Sein Urteil zu der Kollision mit Leclerc lautet: "Schau dir an, wie weit er vor der Kurve zurücklag. Zwei Autolängen! Auf welchem Planeten hat er gedacht, dass das klappt?"

"Jeder weiß, dass diese Linie innen dort nicht funktioniert. Du musst wirklich direkt neben dem anderen Fahrer sein. Wie Max. Der war außen praktisch auf gleicher Höhe und hat es gerade so geschafft, dass es funktioniert. Also nein, das war einfach eine schlechte, wirklich schlechte Berechnung seinerseits. Und in der Formel 1 sollte er es besser können."

Für Villeneuve war die Antonelli-Aktion "sehr schwach", denn er findet: "Das war einfach schlecht berechnet. Er hätte das nicht machen dürfen. Und dann hat er sich auch noch aufgeregt und die Geschwindigkeitsbegrenzung missachtet. Vielleicht ist die Formel 1 einfach zu viel für ihn", spricht der Weltmeister von 1997 die Fünfsekundenstrafe für Pitlane-Speeding an, die sich Antonelli ebenfalls einhandelte.

In der Sky-Nachberichterstattung nach dem Grand Prix der Niederlande zeigte sich Moderator Simon Lazenby dann bemüht, die in ihrer Schärfe durchaus kontroverse Villeneuve-Kritik ein wenig zu relativieren. Antonelli sei "gerade erst 19 geworden", warf er beschwichtigend ein. Aber das lässt Villeneuve nicht als Argument gelten: "Nein. Er ist in der Formel 1. Wie alt war Max, als er in die Formel 1 kam? Und wie alt war Lewis? Genau. Das ist keine gute Ausrede."

Auf den Einwand, dass Verstappen in seiner ersten Formel-1-Saison 2015, bei Toro Rosso, ebenfalls einige Fehler gemacht und die Grenzen überschritten hat, grätscht Villeneuve dazwischen: "Moment, ich möchte dazu noch was sagen. Max ist damals über dem Limit gefahren, ja. Aber er war nicht vier Zehntel langsamer als sein Teamkollege. Er war auf dem gleichen Tempo."

Warum der Vergleich mit Verstappen 2015 hinkt

Dazu braucht es ein bisschen Kontext. Erstens: Verstappens erster Teamkollege in der Formel 1 2015 war Carlos Sainz, damals ebenfalls Rookie. Verstappen verlor das Qualifyingduell mit 9:10, gewann aber das Punkteduell eindeutig mit 49:18. Das mit Antonellis Situation zu vergleichen, der heute George Russell als Teamkollegen hat, einen der anerkannt schnellsten Fahrer im Grand-Prix-Sport, erscheint auf den ersten Blick zumindest gewagt.

Andererseits hat Villeneuve im Kern schon einen Punkt: Verstappen hat ohne Anlaufzeit sofort eingeschlagen, gewann 2016 in Barcelona gleich sein erstes Rennen nach dem Wechsel zu Red Bull Racing, als Daniil Kwjat mitten in der Saison ausgemustert wurde. Doch selbst Verstappen war 2016, im Jahr 1 an der Seite von Daniel Ricciardo, bestenfalls die Nummer 1B im Team. Auch in Sachen Speed.

Bei Mercedes ist das Vertrauen in Antonelli jedenfalls ungebrochen. Toto Wolff hat inzwischen eingeräumt, dass es wahrscheinlich verfrüht war, den Italiener direkt in ein Topteam in der Formel 1 zu setzen. Doch am grundsätzlichen Talent bestehen teamintern keine Zweifel, sodass Antonelli keine Angst haben muss, 2026 nicht mehr in einem silbernen Auto zu fahren.

Wolff hat schon vor einem Jahr in Monza, als Antonelli nach sagenhaften Zwischenzeiten im Freien Training gleich in seiner ersten Runde in der Michele-Alboreto-Kurve (vormals Parabolica) abflog, geahnt, dass in der ersten Saison als Rennfahrer nicht alles rund laufen würde, und rechnete "mit Momenten, in denen wir uns die Haare raufen werden, und mit anderen Momenten voller Brillanz".

Zandvoort fasse genau das gut zusammen: "Der Fehler im ersten Training ist natürlich etwas, das dich für das ganze Wochenende ins Hintertreffen bringt. Und dann im Rennen diese starken Momente: Er hatte freie Fahrt, er war hinter dem McLaren, dem schnellsten Auto, hat aufgeschlossen - und war dann leider in den Unfall verwickelt, der sowohl für Charles als auch für Kimi das Rennen beendet hat."

Mercedes: Entspannt, weil es nicht um die WM geht

"Aber wir wollen natürlich, dass er solche Manöver versucht. Es sind also Höhen und Tiefen, und genau das habe ich in dieser Saison absolut erwartet. Jeder dieser Tage ist ein Lernprozess für das nächste Jahr. Wir kämpfen nicht um die Konstrukteurs-WM. Natürlich geht es um P2 und P3, aber das ist weniger relevant als nächstes Jahr, wenn es wichtig ist, die Punkte einzufahren."

"Man wünscht sich natürlich immer, dass der Lernprozess weniger Höhen und Tiefen hat, als es heute der Fall war, weil die Ausschläge enorm sind. Aber das Potenzial ist da. Es muss nur freigelegt werden, wie bei einer Artischocke, bei der am Ende das Gold wartet. Das Talent ist da, daran haben wir keinen Zweifel", sagt Wolff.

Genau das sei der Grund dafür, dass Mercedes teamintern nicht unruhig wird, weil Antonelli dann vielleicht doch etwas mehr Schrott produziert, als man das vor einem Jahr insgeheim gehofft hatte. "Wir kämpfen nicht um die WM", nickt Wolff. "Wir kämpfen um P2 und P3, und es ist unsere Pflicht, dafür unser Bestes zu geben. Aber ich kann damit leichter umgehen, als wenn es um einen WM-Titel ginge."

"Wir wollen einen Fahrer, der Speed hat, der schnell ist, der dazulernt, der Punkte holt. Aber alle Großen machen Fehler. Ein Vergleich mit dem jungen Max ist schwierig, weil Max damals bei Toro Rosso in einem anderen Umfeld gestartet ist. Aber auch da gab es Momente, in denen man sagte: 'Das war ein großer Fehler.'"

"Was wir oft vergessen: Unsere Entscheidung war, einen 18-Jährigen ins Auto zu setzen, der gerade einmal zweieinhalb Jahre Erfahrung im Formelsport hatte. [...] Uns war klar: Rookie und 18 Jahre alt - diese Kombination bringt ganz bestimmt auch harte Momente mit sich. Er wurde in dieses Mammut-Team geworfen, das die Marke Mercedes repräsentiert. Dass er da Fehler machen würde, war absehbar."

Wolff gibt zu, dass er hofft, dass Antonelli 2026 "weniger Fehler machen und dafür mehr Punkte holen" wird, unterstreicht aber: "Langfristig gilt ihm mein hundertprozentiger Glaube, [...] weil er dieses Talent hat, diese rohe Geschwindigkeit in sich trägt und gut damit umgeht. Für ihn ist es keine große Katastrophe, das Auto in FP1 nach fünf Minuten im Kies zu versenken. Es hat Positives und Negatives."

Warum hat Antonelli seinen sagenhaften Speed verloren?

Womit Villeneuve einen Punkt hat, ist: Nach den überragenden Monza-Zwischenzeiten im Freien Training 2024 gingen viele davon aus, dass der schiere Speed 2025 nicht Antonellis Problem werden würde. Aber die nackten Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Im Qualifyingduell liegt Antonelli gegen Russell mit 1:14 im Hintertreffen. Und in einem Grand Prix hat er seinen Teamkollegen überhaupt noch nie geschlagen.

Wenn dann auch noch Fehler passieren wie die Kollision mit Leclerc in Zandvoort, ist die anschließende Kritik von Experten wie Villeneuve fast unausweichlich. Zumal das Timing denkbar ungünstig war: Ausgerechnet eine Woche vor dem Ferrari-Heimrennen in Monza einen Ferrari abzuschießen, ist für die Sympathiewerte beim Grand Prix von Italien vermutlich nicht förderlich.

Antonelli sei in Zandvoort "zwischendurch ganz flott unterwegs" gewesen, findet Formel-1-Experte Marc Surer. "Aber als Italiener einen Ferrari abzuschießen, das geht nicht!" Wolff widerspricht: "Was wäre gewesen, wenn Kimi einen Ferrari überholt hätte? Ich glaube, die Leute in Italien wären glücklich gewesen. Die italienischen Fans wollen einen italienischen Fahrer, der kämpft, der das Auto ans Limit und manchmal sogar darüber hinaus bewegt."

"Genau das ist passiert. Italienische Fans wollen keinen zögerlichen Fahrer, sondern jemanden, der attackiert. Aus Teamsicht wollen wir natürlich keinen Ferrari rausnehmen. Ganz bestimmt nicht. Und ich bin sicher, dass Kimi auch keinen Ferrari rausnehmen wollte. Aber so ist es nun einmal. Es ist harter Rennsport. Unglücklich, und es tut mir leid für Charles und Ferrari. Aber wir wollen, dass er diese Manöver versucht. Und das soll er auch."

"Er ist eben noch dieser sehr junge Bursche, und darin sehe ich das Positive. Wir wollen nicht, dass er das verliert, denn im Rennauto ist er ein kompromissloser Kämpfer. Das war er schon im Kartsport. Wenn das Visier runtergeht, hat man ein Monster, und genau das wollen wir. Wir müssen ihnen nur ein Auto geben, das etwas weniger schwierig zu fahren ist, bei dem man nicht ständig am Limit pushen muss und dadurch Fehler provoziert werden. Dann wird er sich verbessern und weniger Fehler machen."

Positiv hebt Wolff hervor: "Als Mensch ist er immer noch derselbe, und das ist ein guter, stabiler Charakterzug, den er hat. Es gibt noch viel zu lernen, aber [...] es ist sehr angenehm, ihn im Team zu haben. Er erkennt seine Schwächen an, er bringt eine gute Stimmung mit. Genauso wie George. Die beiden zusammen schaffen ein wirklich schönes Arbeitsumfeld", lobt der Mercedes-Teamchef.

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