Fünfkampf-Drama um Goldfavoritin in Tokio
Olympia 2021: Schleu und das Pferdedrama - Verbände mischen mit bei der Sportart "Jeder gegen jeden"
- Aktualisiert: 07.08.2021
- 21:44 Uhr
- ran.de
Jetzt geht es um die Schuldfrage nach dem Drama um Fünfkämpferin Annika Schleu und das Pferd "Saint Boy". Bei der Beantwortung ist sich kaum jemand zu schade, mit dem Finger auf ein anderes Lager zu zeigen.
München - Millionen Olympia-Fans mussten am Freitag zur Mittagsstunde mit ansehen, wie eine Goldfavoritin auf dem Rücken eines Pferdes verzweifelte, während sich das Tier in diesem Moment total unwohl in seiner Haut fühlte. Seither ist ein öffentlicher Streit darüber entbrannt, wer denn nun die Schuld an diesem unwürdigen Olympia-Moment hatte.
Fünfkämpferin Annika Schleu? Das ihr zuvor zugeloste Pferd "Saint Boy"? Ihre Trainern Kim Raisner, die ihrem Schützling gut hörbar einen "Hau drauf"-Befehl gab? Der Weltverband, also die Union Internationale de Pentathlon Moderne (UIPM), der die reichlich merkwürdigen Regeln aufgestellt hat?
Bei der Beantwortung der Frage geht es hoch her. Es ist ein Wettbewerb nach dem Motto: Jeder gegen jeden. Und auch manch anderer wird noch mit in den Ring gezerrt.
Schleus Trainerin durfte nicht mehr an Spielen teilnehmen
Nach außen sichtbar wurde Raisner der schwarze Peter zugeschoben: Sie durfte beim Wettbewerb der Männer am Samstag nicht mehr ins Stadion, die Spiele von Tokio waren für sie vorzeitig beendet.
Auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hatte zuvor bereits bekanntgegeben, die 48-Jährige an diesem Tag nicht einsetzen zu wollen - diese Entscheidung sei einvernehmlich mit Raisner getroffen worden. Ihr wird nicht nur vorgeworfen, den "Hau drauf"-Befehl gegeben zu haben, sondern dem Pferd zudem einen Faustschlag versetzt zu haben.
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Fünfkämpfer-Boss schiebt Schuld auf Schleu
Ruhe kehrte damit aber keineswegs ein zwischen den verschiedenen Lagern. So forderten DOSB, die Deutsche Reiterliche Vereinigung FN, der Deutsche Verband der Modernen Fünfkämpfer und der Verein Athleten Deutschland ein Umdenken von der UIPM. Zumindest eine Debatte müsse angestoßen werden, wie das Reiten beim Modernen Fünfkampf künftig gestaltet werden sollte.
Doch der Präsident des Fünfkampf-Weltverbandes scheint das Problem nicht in den Regularien zu sehen, die das Reiten zu einem Vabanquespiel für Ross und Reiter machen. "Als ich die Bilder gesehen habe, habe ich nur gedacht, das darf doch nicht wahr sein", monierte Klaus Schormann, ebenfalls Deutscher, in der "Bild".
"Trainerin hat alles falsch gemacht"
Und weiter: "Andere Athleten, die in dieser Situation von außen nicht noch angepeitscht werden, die sagen: 'Dankeschön, ich gehe raus.' Die hätten abgedankt." Dies sei durchaus schon vorgekommen.
Neben Schleu gibt er eben auch Raisner noch einen mit: "Sie wäre die Heldin gewesen. Aber hier hat Annika auf die Trainerin gehört, die alles falsch gemacht hat - schade!" Sein Fett weg bekam auch der Veterinär, der das offenbar verängstigte Pferd nach einer Verweigerung im ersten Lauf dennoch für startklar befand. Der Tierarzt hätte "absolut versagt", findet Schormann.
Landwirtschaftsministerin spricht von "Tierquälerei"
Damit werden Schleu und Co. vom obersten Boss im Regen stehen gelassen. Doch so einfach scheint die UIPM nicht davonzukommen. In der "Bild" kam auch Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner zu Wort.
"Die Bilder, die wir gestern beim Reiten des modernen Fünfkampfs in Tokio gesehen haben, sind nichts anderes als Tierquälerei. Es muss Schluss damit sein, dass Pferde in dieser Sportart zu reinen Transportmitteln degradiert werden", schimpfte die CDU-Politikerin.
Um zu ergänzen: "Durch das wahllose Zulosen besteht zum Reiter keinerlei Bezug. Darunter leiden die Tiere. Ich erwarte, dass diese Sportart, wie sie jetzt besteht, überdacht wird."
Werth: "Pferde nur Mittel zum Zweck"
Ähnlich hatte sich auch Isabell Werth geäußert. Die Dressur-Legende, die in Tokio mit der Mannschaft ihr siebtes olympisches Gold abräumte, monierte: "Die Fünfkampf-Pferde werden kurz vor der Entscheidung mit einem Transporter ins Stadion gekarrt, kein Reiter hat sie vorher gesehen."
Darin liege das große Problem, denn: "Es ist keine gewachsene Beziehung, wie sie in diesem Sport mit diesen sensiblen Lebewesen nötig ist. Die Pferde sind hier nur Mittel zum Zweck." Deswegen empfahl sie den Fünfkämpfern: "Denen kann man genauso gut ein Fahrrad oder einen Roller geben."
Fünfkämpfer schießt gegen den Reitsport
Diese Einmischung rief mit Patrick Dogue einen der angesprochenen Athleten auf den Plan. "Es gab da einen Kommentar von einer Dressurreiterin, die ihrem Pferd auch auf nicht natürliche Weise beigebracht hat, sich irgendwie zu bewegen - und uns vorwirft, wir sollten Fahrrad fahren", wird er in der "Bild" zitiert: "In bestimmten Bereichen im Reitsport geht es viel schlimmer zu!"
Wirklich schlimm ging es in den sozialen Medien zu - aus Sicht von Schleu. Nach üblen Beschimpfungen löschte die 31-Jährige sogar ihren Instagram-Account. Vor allem der Vorwurf der Tierquälerei wurde von unzähligen Usern geäußert, die also virtuell auf der Olympionikin herumritten.
Schleu fühlt sich "natürlich schon angegriffen"
Dagegen setzte sich die Olympia-Vierte von 2016 zur Wehr. "Ich fühle mich natürlich schon angegriffen, wenn gesagt wird, dass ich unmenschlich bin, wenn Vorwürfe der Tierquälerei geäußert werden. Ich bin nach bestem Gewissen mit dem Pferd umgegangen. Es war schon klar, dass man etwas konsequenter werden muss, aber ich war zu keiner Zeit grob", sagte sie laut "Bild".
Sie habe nicht das Gefühl, mit "Saint Boy" in einer Art und Weise umgegangen zu sein, "wie es nicht auch Reiter machen würden, um einem Pferd Gehorsam beizubringen und es zu überzeugen, in den Parcours reinzugehen. Da sind diese Bilder entstanden."
"Da ist mir echt schlecht geworden"
Sowohl Dogue als auch Fabian Liebig sprangen in ihren Interviews nach ihrem Wettkampf bei "Eurosport" der Geschmähten bei. Beide betonten zudem ungefragt, dass diese Folgen des Pferde-Dramas vom Vortag ihre Leistung beeinflusst haben dürften. Sie landeten letztlich auf den Plätzen 20 und 19.
"Da ist mir echt schlecht geworden, was da an Kommentaren rumgegangen ist. Da wurden Sachen gesagt, die auch strafrechtlich relevant werden, wenn es wirklich ausgeführt wird", betonte Dogue: "Da sind Sachen gefallen, wo ich mir denke: Wie kann sich hinter seinem Handy verstecken und sowas sagen?"
Er "kenne Annika seit über zehn Jahren und sie ist so eine nette Persönlichkeit, die niemals einem Tier etwas zuleide tun würde". Es sei eine "ziemlich tragische Geschichte" gewesen.
"Sie wäre wohl mit 30 anderen Pferden Olympiasiegerin geworden"
"Was viel schlimmer ist, ist in den sozialen Medien, der Shitstorm, der Hate, der auf sie zugekommen ist", kritisierte auch Liebig: "Sie ist ein herzensguter Mensch. Ich schätze sie wirklich von tiefstem Herzen. Und sie hat es absolut nicht verdient. Sie arbeitet sehr, sehr hart an sich, gibt alles für diesen Sport und ist absolut kein Tierquäler."
Dann sprach er aus, worauf sich wohl fast alle Beteiligten einigen können: "Wahrscheinlich wäre sie mit 30 anderen Pferden Olympiasiegerin geworden, mit diesem einen hat sie es nicht geschafft. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass es so passiert ist."
Schleu und "Saint Boy" zeigen Rolle des Losglücks auf
Möglich war das mutmaßlich nur, weil der Moderne Fünfkampf zu einem Teil auch mit Losglück verbunden ist. Und nicht immer liegt das Glück dieser Erde auf dem Rücken der Pferde.
Das jedenfalls haben Schleu und "Saint Boy" der Sport-Welt vor Augen geführt.
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