Vor Spiel gegen Türkei droht das Gruppen-Aus
EM 2021: Eine Goldene Generation - aber kein Team? Das gefährliche Spiel der Schweizer Stars
- Aktualisiert: 20.06.2021
- 16:27 Uhr
- ran.de / Marcus Giebel
Mit enormen Erwartungen begleitete die Schweiz ihre Nati in die EM 2021. Doch nach zwei Auftritten ist der Hype um die Goldene Generation bereits verflogen. Nationaltrainer Vladimir Petkovic greift zu einer ungewöhnlichen Maßnahme.
München - Was herrschte für eine Vorfreude in der Schweiz. Die Eidgenossen fieberten der paneuropäischen EM regelrecht entgegen. Endlich sollten die großen Träume wahr werden, die mit dem aktuellen Team verbunden werden. Euphorie allerorten.
Denn die Schweiz sieht sich aktuell als Heimatland einer Goldenen Generation, nach denen alle Länder abseits der großen Fußballnationen in den weniger rosigen Zeiten so sehr lechzen. Granit Xhaka, Ricardo Rodriguez und Haris Seferovic wurden 2009 in Nigeria U17-Weltmeister, als Deutschland unter anderem Marc-Andre ter Stegen, Mario Götze und Kevin Volland ins Rennen schickte.
Zu den drei heutigen Führungsspielern der Nati gesellt sich mit Xherdan Shaqiri ein weiterer Hochbegabter im besten Profialter. Etwas jünger sind Manuel Akanji, Denis Zakaria, Nico Elvedi oder Breel Embolo, die ebenfalls Besonderes am Ball leisten können.
Nur gegen Wales phasenweise überzeugend
Doch irgendwie will bei dieser so sehr herbeigesehnten EM nichts zusammenlaufen bei der Schweiz. Gegen Wales überzeugte die Mannschaft von Trainer Vladimir Petkovic lediglich bis zum 1:0, kassierte aber noch den Ausgleich. Beim 0:3 gegen Italien war die mit Ausnahmekönnern gespickte Elf über die komplette Spielzeit auf verlorenem Posten.
So muss also ein Sieg gegen die noch punktlose Türkei (ab 18 Uhr im Liveticker auf ran.de) her, um mit Schützenhilfe doch noch das Achtelfinale zu erreichen. Dazu genügt ja möglicherweise auch der dritte Gruppenplatz. Mehr erscheint angesichts von drei Punkten und fünf Toren Rückstand auf Wales nicht mehr möglich zu sein.
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Babbel: "Bei Schweizern brennt der Baum"
Nach der Hochstimmung im Vorfeld des Turniers ist die Laune vieler Experten mittlerweile am Tiefpunkt angelangt, wenn es um die Nati geht. "Bei den Schweizern brennt der Baum", urteilte Markus Babbel im "ran EM Frühstück": "Da läuft so viel schief."
Ähnlich vernichtend klingt die Kritik von Alexander Frei. Der Rekordtorschütze der Auswahl gab in der "Wiler Zeitung" zu bedenken: "Mich überrascht, dass man über Themen wie Leidenschaft, Einsatzbereitschaft und Laufbereitschaft sprechen muss." Attribute also, die im Gegensatz zu Schnelligkeit oder Ballgewandtheit niemandem in die Wiege gelegt werden können.
Nati als Mahnung an Teams voller Talente
Es schwingt quasi der Vorwurf mit, die Schweizer Auswahl würde zwar können, aber nicht unbedingt wollen. Was auffällt: Der Mannschaft gelingt es nicht, die besonderen Qualitäten ihrer einzelnen Mitglieder so miteinander zu verzahnen, dass das Team als Ganzes profitiert. Im Grunde kann diese Nati als Mahnung für andere mit zahlreichen talentierten Akteuren gespickte Teams herhalten.
Und so droht das Turnier eine weitere herbe Enttäuschung zu werden. Oft reisten die Auserwählten des SFV mit großem Brimborium an und deutlich früher als erwartet wieder ab. Lediglich bei einer Europameisterschaft gelang der Sprung in die K.o.-Runde. Vor fünf Jahren, als das Achtelfinale neu eingeführt wurde, wo gegen Polen das Aus nach Elfmeterschießen kam.
"Talentierteste Nati, welche die Schweiz je hatte"
Bei Weltmeisterschaften erreichte die Schweiz zwar schon dreimal das Viertelfinale, letztmals allerdings 1954. Lang, lang her. Weshalb es mal wieder an der Zeit wäre für fußballerische Großtaten. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Im Frühjahr schrieb der "Blick", "die talentierteste Nati, welche die Schweiz je hatte" würde nach Italien reisen. Und weiter: "Für diese Mannschaft gibt es keine Grenzen." Spätestens gegen Italien wurden sie dem Team gnadenlos aufgezeigt.
Schweizer haben zumindest geringeren Erwartungsdruck
Zum erweiterten Favoritenkreis zählt diese Ansammlung von Individualisten aktuell niemand mehr. Was ja nicht die schlechteste Ausgangslage sein muss. Schließlich könnte die gefühlte Aussichtslosigkeit ungeahnte Kräfte freisetzen.
Wird der Fehlstart ins Turnier vielleicht sogar zu einer glücklichen Fügung, weil der ganz große Erwartungsdruck aus der Heimat verflogen ist? Nicht auszuschließen. Aber auch nur, wenn die Führungsspieler rasch in die EM finden.
Appell an die Ehre der Spieler
Denn genau die zählte Babbel, der einst den FC Luzern trainierte und in der Schweiz bestens vernetzt ist, im "Blick" an: "Shaqiri ist mir zu ungefährlich. Xhaka spielt nur quer oder zurück. Und Seferovic ist fleißig, aber glücklos."
Das einst beim Blick auf die Auswahl so beseelte Boulevardblatt appelliert mittlerweile schon an die Ehre der Kicker. Wenn es so weit gekommen ist, scheint sowieso alles zu spät zu sein.
Frisuren-Affäre - Eigentor statt Zeichen
Doch die Nati-Stars weckten in den vergangenen Tagen nicht immer den Eindruck, als wüssten sie, was auf dem Spiel steht. Dass es für das kleine Alpenland nicht irgendein Turnier ist.
Während der Vorbereitung wurde ein Friseur ins Trainingscamp eingeladen, um den Spielern die Haare schön oder im Falle von Xhaka und Akanji auch gleich blond zu machen. So wird aus einer Goldenen schnell eine Goldige Generation. Nicht nur wegen der Corona-Pandemie rief diese Aktion in der Heimat keinen Applaus hervor.
Später sagte der Kommunikationschef zur Frisuren-Affäre, es habe ein Zeichen gesetzt werden sollen. Doch es wurde zum Eigentor.
Trainer Petkovic wendet sich emotional an die Nation
Offenbar um den Zusammenhalt zwischen Mannschaft und Fans besorgt, wandte sich Trainer Petkovic in der Zeitung "Schweiz am Wochenende" mit emotionalen Worten an die Nation. "Im Spiel der letzten Chance müssen wir neben der richtigen taktischen Ausrichtung auch wieder alle unsere Werte und Tugenden auf den Platz bringen: Solidarität, Identifikation, Freude und Respekt", heißt es darin unter anderem.
Ob der 57-Jährige damit in die Herzen seiner Landsleute vordringen kann? Möglicherweise denken viele auch so wie Frei, der feststellte: "Aufgrund der Fußballgerechtigkeit müsste es gegen die Türkei höchstens ein Unentschieden oder eine Niederlage geben und die Schweiz fährt heim." Da klingt schon ein Hauch von Verzweiflung durch. Aber auch Gleichgültigkeit.
Der Hype-Train um die Goldene Generation steht offensichtlich am Scheideweg. Welche Abzweigung er nimmt, wird sich vor allem im Spiel gegen die Türkei entscheiden. Sicher ist in jedem Fall: Xhaka, Akanji und Co. spielen ein gefährliches Spiel. In dem sie viel verlieren können.
Marcus Giebel
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