Kommentar zur Wiederaufnahme der Bundesliga und 2. Liga
ranSicht zum Bundesliga-Neustart: Zerrissen zwischen Perversion und etwas Normalität
- Aktualisiert: 06.05.2020
- 20:08 Uhr
- ran.de / Andreas Reiners
Bald rollt der Bundesliga-Ball wieder, und das inmitten der Coronakrise. Doch der Neustart hinterlässt einen Wechselbad der Gefühle - einerseits die ersehnte Rückkehr zur Normalität, andererseits das krankende System. Ein Kommentar von ran.de-Mitarbeiter Andreas Reiners.
Mönchengladbach - Es war ein Moment der Sehnsucht. Emotional. Traurig. Und auch seltsam. Eine innere Zerrissenheit, die schwer zu beschreiben ist.
Eine Erkenntnis, die mich in der Sekunde dann doch umhaute, als ich vor ein paar Wochen am Stadion von Borussia Mönchengladbach vorbeifuhr: Es ist sehr gut möglich, dass ich erst 2021 wieder auf der Tribüne sitzen werde.
Man verdrängt das gerne. Und oft. Ist halt sehr bescheiden, dieser Gedanke. Gab zuletzt aber auch Wichtigeres.
Es liegt an meinem Wohnort, dass ich sehr oft dort vorbeikomme. Und da mein Wohnort auch mein Geburtsort ist, habe ich lange vor meiner Berufswahl mein Herz an diesen Klub vergeben. Der Klassiker: Mit dem Vater ins Stadion, die grauen 80er. Mill, Rahn, Bruns. Ewige Treue und so. Nicht mehr zu ändern.
Deshalb gibt es Themen im Leben, da kommt kein Schwarz oder Weiß infrage. Da gibt es Zwischentöne.
Kein simples "Ja" oder "Nein"
Es gibt dann nicht den einen Standpunkt, mit dem man eine Meinung unmissverständlich transportieren kann. Kein simples "Ja" oder "Nein".
Meist kommt deshalb ein "Aber" dahinter, um die Komplexität einzufangen, abzubilden. Schwierig wird es vor allem dann, wenn Emotionen im Spiel sind, wenn Gefühle mitspielen. Wie beim Fußball. Dann wird es gerne mal kompliziert.
Ich gebe es zu: Ja, ich vermisse den Fußball. Sehr sogar. Das volle Stadion, die Stimmung, die Anspannung, die Atmosphäre.
Aber: Ich kann auf Geisterspiele verzichten, weil das nicht mehr viel mit dem Fußball zu tun hat, für den man brennt.
Noch ein Aber: Ich kann auch auf den Fußball verzichten, wie er sich bereits in den Monaten vor der Coronakrise präsentiert hat.
Er hat aber auch während der vergangenen Wochen leider wenig dafür getan, das meine Vorfreude gesteigert hätte. Ein Fettnäpfchen nach dem anderen, ob nun verbal durch Hans-Joachim Watzke, durch unsägliche PR-Stunts wie beim 1. FC Köln oder bei Hertha BSC.
Wie der Fußball mit allen Mitteln um seinen Sonderweg kämpft, um seine Millionen und Milliarden zusammenzubekommen, beweist nur, was in diesem Geschäft in den vergangenen Jahren alles falsch gelaufen ist.
Wie unfassbar schlecht hat ein Verein gewirtschaftet, der seinen Fans im Zuge der Ticket-Rückabwicklung nicht einmal die Option "Geld zurück" anbieten kann?
Ja, das war ein Offenbarungseid, auf allen Ebenen. Nicht der einzige.
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Viele hässliche Gesichter
Der Fußball hat viele hässliche Gesichter gezeigt, Facetten und Plot-Twists, die sogar Kritiker noch negativ überrascht hat. Er hat sich selbst überhöht, nimmt sich immer noch viel zu wichtig. Bescheidenheit und Demut? Fehlanzeige.
Während in Europa die Zahlen der Infizierten und Toten in die Höhe schnellten, diskutiert ein Zirkus, der mit aberwitzigen Summen um sich schmeißt und schon lange die Bodenhaftung und den Sinn für die Realität verloren hat, darüber, wann er endlich wieder auftreten kann. Die Lobbyarbeit der Klubs und der Liga-Lautsprecher konnte man live verfolgen.
Auf diesem Weg hat der Fußball wieder Sympathien verspielt, Verständnis für die Lage, und es verpasst, nachhaltige Zeichen zu setzen.
Es gibt keine Beweise dafür, aber der Reflex ist natürlich sofort da: Geht es auch bei anderen Klubs so zu wie in Berlin? Kann das mit dem Hygienekonzept gutgehen? Wird das nicht alles zusammenbrechen? Wie nimmt die Bevölkerung es auf, wenn es bis zum 5. Juni ein Kontaktverbot gibt, der Fußball aber wieder so tut, als sei alles normal?
Zur Erinnerung: Es gibt noch kein Medikament, einen Impfstoff auch nicht, dafür aber Dauerappelle an die Menschen, sich an die Vorgaben zu halten.
Können Fußballer, die sich vornehmlich um Instagram und TikTok-Videos kümmern, im Umgang mit einer nachweislich lebensgefährlichen Krankheit Vorbilder sein?
Wollen sie das überhaupt? Wurden sie gefragt, schließlich setzen auch sie ihre Gesundheit aufs Spiel?
Übernehmen sich die Vereine mit der gesellschaftlichen Verantwortung, die jetzt anders gelagert ist, als nur zu unterhalten?
Viele Fragen, wenig Antworten.
Es gibt diverse Blickwinkel
Aber: Es gibt bei dem Thema Nuancen, diverse Blickwinkel. Beruflich ist es für viele Journalisten zum Beispiel essentiell, dass der Livesport so schnell wie möglich wieder loslegt, weil Corona auch sie wirtschaftlich trifft.
Ein wesentlicher und entscheidender Unterschied zum Fußball wird aber sehr schnell deutlich: Wir (und sehr, sehr viele andere Menschen) haben auf die harte Tour lernen müssen, mit den Folgen der Krise umzugehen. Durch Solidarität. Verzicht. Kampfgeist.
Der Fußball ist in einer so gefährlichen Schieflage, dass er nicht verzichten kann, weil sonst viele Vereine Insolvenz anmelden müssten. Er will es auch gar nicht.
Ein krankes System, das inmitten der Pandemie ohne Blitz-Heilung nicht überleben kann.
Ist es pervers, das eine Branche, in der es zwar auch um "normale" Arbeitsplätze geht, vor allem aber um Wirtschaftsunternehmen und Millionäre, mit aller Gewalt weitermachen muss, damit die Blase nicht zerplatzt, während sich die Bevölkerung von Lockerung zu Lockerung hangelt und viele um ihre Existenzen bangen und sich irgendwie durchkämpfen?
Bei aller Liebe: Ja.
Vorfreude gibt es auch
Aber: Es wird bei aller Kritik für den viel zu frühen Neustart, für die Sonderrolle, vielen Fans egal sein, dass vor allem deshalb gekickt wird, um einem Geschäft das Überleben zu sichern, dem eine Radikalkur eigentlich mal ganz gut zu Gesicht stehen würde. Ein Zurechtstutzen auf Normalmaß.
Ja, moralisch spricht so ziemlich alles gegen den Neustart, er kommt schlicht und ergreifend zu früh.
Doch viele suchen in der Krise nach Ablenkung, nach Zerstreuung, fiebern dem Neustart entgegen. Freuen sich ehrlich darauf. Ein bisschen Normalität in unnormalen Zeiten. Darf man das verurteilen? Wohl kaum.
Es ist eben emotional. Und deshalb kompliziert.
Wie gesagt: Ich komme öfter am Stadion vorbei. Und inzwischen habe ich mich damit angefreundet, auch in den kommenden Monaten nur vorbeizufahren.
Weil es wohl nicht anders geht. Und sich falsch anfühlen würde. Wie der ganze Neustart.
Andreas Reiners
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