Florian Kehrmann gehörte 2007 zu der Nationalmannschaft, die sich mit dem Gewinn der Heim-WM unsterblich machte. Vor dem Weltrekord-Auftaktspiel der Europameisterschaft in Deutschland gegen die Schweiz (ab 20:45 Uhr im LIVETICKER) spricht der heutige Bundesliga-Trainer des TBV Lemgo Lippe über die deutschen Medaillenchancen, einen Kniff von Heiner Brand beim Wintermärchen und eine sich anbahnende Revolution im deutschen Handball.
Acht Jahre ist es her, als sich eine junge deutsche Nationalmannschaft zu Handball-Königen Europas krönte. Damals hatte kaum jemand die DHB-Auswahl auf dem Zettel. So war das auch 2007 bei der Heim-WM, wie sich Florian Kehrmann erinnert.
Der ehemalige Weltklasse-Außenspieler und heutige Trainer des Bundesligisten TBV Lemgo Lippe sieht vor dem Auftakt der Heim-Europameisterschaft Parallelen zwischen den großen Handball-Triumphen 2007 und 2016 und der aktuellen Entwicklung der DHB-Auswahl.
Im ran-Interview erklärt der 46-Jährige, warum es für die deutsche Mannschaft sehr weit gehen kann, welcher Kniff von Heiner Brand der Mannschaft von 2007 zum WM-Titel verhalf und worauf Bundestrainer Alfred Gislason beim deutschen Top-Star Juri Knorr achten muss.
Außerdem äußert er sich zu einem Konzept, das den deutschen Handball nachhaltig revolutionieren könnte.
ran: Herr Kehrmann, der Handball-Welt steht etwas Historisches bevor. Deutschland wird einen Zuschauer-Weltrekord beim Auftakt der Heim-EM aufstellen. Wie sehr würden Sie sich wünschen, noch einmal ein paar Jahre jünger zu sein, um selbst auf dem Parkett stehen zu dürfen?
Florian Kehrmann (lacht): Dafür bin ich schon zu lange raus und zu lange im Trainergeschäft. Ich hatte meine Zeit mit der WM 2007. Das sind tolle Erinnerungen, die jetzt immer wieder hochkommen. Das, was in den kommenden Wochen passiert, werde ich aber natürlich mit sehr viel Freude und Spannung verfolgen.
ran: Wo werden sie beim EM-Auftakt sein?
Kehrmann: Ich bin Düsseldorf live im Stadion. Das wollte ich mir als gebürtiger Neusser (circa zehn Kilometer von Düsseldorf entfernt, Anm. d. Red.) nicht entgehen lassen, zumal wir mit dem TBV Lemgo Lippe auch erst am 11. Januar in die Vorbereitung starten.
ran: Sie kennen das Gefühl, ein mit Euphorie erwartetes Heim-Turnier zu spielen. Was geht den Spielern vor einem solchen Spiel mit so einer Kulisse durch den Kopf?
Kehrmann: Die Spieler sollten sich nicht zu sehr auf dieses Spiel und diese Kulisse fokussieren. Denn worum geht es eigentlich? Es geht um einen guten Start ins Turnier. So banal es klingt: Konzentrier‘ dich auf diese 40 x 20 Meter und die Schweiz. Ein Gegner, den sie mit einer guten Leistung schlagen werden. Das ganze Drumherum ist selbstverständlich sehr viel für die Spieler, aber der Fokus muss klar sein.
DHB-Team bei der Handball-EM 2024: "Es kann sehr weit gehen"
ran: Ihr ehemaliger Trainer Heiner Brand sagte vor der EM, dass Deutschland nicht zu den Favoriten zähle. Wie sehen Sie das?
Kehrmann: Es wird nicht einfach und Deutschland ist auch nicht der Favorit. Das sind für mich Dänemark, Schweden, Norwegen und Frankreich. Aber ich glaube, es kann sehr weit gehen.
ran: Was lässt Sie daran glauben?
Kehrmann: Die ganzen Begleitumstände – und damit meine ich nicht nur den Heim-Vorteil. Auch die Vorrundengruppe und der Turniermodus sprechen für Deutschland. Wenn sie gut reinkommen gegen die Schweiz, werden sie das Auftaktspiel gewinnen und danach auch Nordmazedonien schlagen. Dann geht es gegen Frankreich, aber gegen diese Top-Nationen zu spielen, ist in der Vorrunde einfacher als in einem Entscheidungsspiel.
ran: Dann würde es zumindest weiter in die Zwischenrunde gehen. Gegner da sind potenziell Spanien, Kroatien, Island und Serbien.
Kehrmann: Die sind für mich alle machbar, wenn man bedenkt, dass in der anderen Gruppe parallel mit Schweden, Norwegen und Dänemark drei der vier Top-Favoriten aufeinandertreffen. Der Modus mit Vorrunde, Zwischenrunde und Halbfinale kommt uns als Heim-Mannschaft entgegen. So kannst du immer weiter eine Euphorie aufbauen und hast dann am Ende der Zwischenrunde hoffentlich ein Entscheidungsspiel mit Viertelfinalcharakter gegen Spanien oder Kroatien. Die Chance aufs Halbfinale ist für mich daher absolut realistisch.
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ran: Es gab in den vergangenen Jahren einen großen Umbruch in der Nationalmannschaft. Mit Uwe Gensheimer, Patrick Wienczek, Steffen Weinhold und Hendrik Pekeler sind prägende Gesichter nicht mehr da. Paul Drux und Fabian Wiede fehlen verletzt, dazu kommt noch der tragische Ausfall von Patrick Groetzki. Dafür sind mit David Späth, Renars Uscins, Nils Lichtlein und Justus Fischer vier U21-Weltmeister aus dem vergangenen Jahr dabei. Wie sehen Sie die Kaderzusammenstellung von Bundestrainer Alfred Gislason?
Kehrmann: Dieser große Umbruch war nötig und für ein erfolgreiches Turnier ist ein gesunder Mix aus erfahren und jung und unbekümmert immens wichtig. Das hat uns schon die Vergangenheit gelehrt. Bei der EM 2004 ist mit Stefan Kretzschmar ein Schlüsselspieler ausgefallen und wir sind trotzdem Europameister geworden. 2016 war es Uwe Gensheimer, der gefehlt hat, und die Mannschaft wurde Europameister, womit keiner gerechnet hat. Manchmal ist es also gar nicht so schlecht, wenn es, gewollt oder ungewollt, bei so einem Turnier Entwicklungen gibt, die jungen Spielern die Möglichkeit geben, in größere Rollen hineinzuwachsen.
ran: Ist Martin Hanne vielleicht so ein Spieler im aktuellen EM-Kader, der von diesen Entwicklungen profitieren kann? Sein märchenhaftes DHB-Debüt im vorletzten Testspiel gegen Portugal erregte viel Aufmerksamkeit.
Kehrmann: Martin ist ein richtig guter Junge, aber man sollte ihm jetzt bitte nicht zu viel Druck aufbauen und ihn als Hoffnungsträger der EM hochspielen. Das wäre falsch. Er hatte in den vergangenen Jahren viele Verletzungsprobleme und hat sich trotzdem enorm entwickelt. Er kann als Joker in entscheidenden Spielen mit seinen Fähigkeiten im Eins-gegen-Eins ein wichtiger Faktor sein, aber die große Last, Spiele zu gewinnen und eine Euphorie zu entfachen, muss auf den Schultern der erfahreneren Spieler wie Juri Knorr, Julian Köster, Andreas Wolff, Kai Häfner oder Kapitän Johannes Golla liegen.
Juri Knorr bei der Handball-EM 2024: "Gislason muss sehen, wenn er überpowert"
ran: Sie sprachen von "erfahreneren" Spielern. Ein Juri Knorr ist auch noch sehr jung, gilt aber gleichzeitig als Kopf der Mannschaft, von dessen Leistung vieles abhängen wird. Wie sehen Sie seine Entwicklung?
Kehrmann: Das ist unglaublich! Man muss sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass er erst 23 ist und noch Fehler machen darf. Deutschland wird Juri in einer guten Form brauchen. Das hat man schon bei den Rhein-Neckar Löwen und dem Final Four um den DHB-Pokal 2023 gesehen. Wenn Juri funktioniert, sind die Löwen in der Lage, einen großen Titel zu gewinnen.
ran: Und gleiches gilt auch für die deutsche Nationalmannschaft?
Kehrmann: Durchaus. Es wird für den Bundestrainer auch darum gehen, das Spiel zu lesen und zu merken, wann Juri überpowert und eine Pause braucht. Das hat man im ersten Testspiel gegen Portugal gesehen. Da waren Phasen dabei, in denen man das Risiko hätte runterschrauben und Fehler minimieren müssen. Aber ich bin mir sicher, dass Deutschland gegen die Top-Nationen einen Juri Knorr in Top-Form brauchen wird – und das wird er schaffen.
ran: Sie haben 2007 selbst die Erfahrung gemacht, wie groß der Einfluss des Heim-Publikums bei einem solchen Turnier sein kann. Bundestrainer Gislason sagte, die Mannschaft müsse eine ähnliche Euphorie entfachen. Was war damals das Geheimrezept zum Wintermärchen?
Kehrmann: Ein absolutes Geheimrezept gab es damals nicht. Wir hatten nach dem Olympia-Turnier einen kleinen Umbruch, mussten 2005 und 2006 viel lernen und gingen nicht als Favorit in die Heim-WM. Es gab mindestens zwei bis drei Nationen, die uns individuell weit überlegen waren. Aber im Turnierverlauf haben sich viele Spieler entwickelt, junge Spieler haben sich in Rollen hineingefunden, dann kam die Unterstützung des Heim-Publikums dazu. So etwas kannte man bei der Nationalmannschaft vorher noch gar nicht. Das hat uns unfassbar gepusht. Eine große Rolle hat aber sicherlich Heiner Brand als Trainer gespielt.
ran: Inwiefern?
Kehrmann: Er hat es in einer gewissen Phase geschafft, uns von allem fernzuhalten. Wir waren in einem Landhotel, weit weg von dem ganzen Medienrummel. Wir konnten uns komplett auf den Handball konzentrieren und diesen riesigen Hype um uns haben wir erst so richtig ab dem Halbfinale wahrgenommen. Das ist aber heute quasi unmöglich mit Social Media und der Masse an Berichterstattung. Da muss jeder Spieler für sich den eigenen Weg finden, sich davon loszulösen.
ran: Und ganz offensichtlich muss Alfred Gislason dabei helfen.
Kehrmann: Das wird eine der wichtigsten Aufgaben von Alfred sein, aber das kann er. Er hat eine unglaubliche Aura und Vita als Trainer. Das wissen die Jungs. Er kann ihnen Sicherheit vermitteln und ihnen das Gefühl geben, dass da einer ist, der voll auf sie setzt. Genau dann können junge und nicht so erfahrene Spieler über sich hinauswachsen und darum wird es gehen.
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Handball-EM 2024: Folgt eine Revolution? "Es wäre fahrlässig, wenn ..."
ran: Der deutsche Kader hat einen guten Mix, gilt aber tatsächlich noch als sehr jung. Da müssen wir auch über Bob Hanning sprechen. Der hatte zuletzt bemängelt, dass viele deutsche Talente in der elitären Bundesliga zu wenig Spielzeit bekämen. In der Folge stellte er nun sein revolutionäres Konzept "Team Deutschland" vor. Der von ihm trainierte VfL Potsdam soll im Falle des Aufstiegs per Leihe von anderen Klubs ein Sammelbecken für deutsche Talente werden. Wie sehen Sie als Trainer in der Bundesliga seine Idee?
Kehrmann: Bob ist ein guter Freund und ich weiß zu schätzen, dass er gerade für die Jugend und den Nachwuchs das Herz am richtigen Fleck hat. Er gibt sich nicht mit dem Status quo zufrieden und immer wieder appelliert er, den jungen Spielern Chancen zu geben. Was er mit den Füchsen Berlin und dem VfL Potsdam aufgebaut hat, ist herausragend. Inwieweit aber dieses Konzept realisierbar ist, müssen andere entscheiden. Es ist aber kompliziert, wenn man eine Mannschaft für ein Jahr zusammenstellt, danach sagt, sie sei zu alt und die Spieler müssen wieder weg.
ran: Also Idee gut, Umsetzbarkeit schwierig?
Kehrmann: Ideen, um den Nachwuchs zu fördern, finde ich immer gut. Bob ist der Fachmann für Nachwuchs im Handball und es wäre fahrlässig, darüber nicht zu diskutieren. Es wird aber andere Seiten geben, die das nicht gut finden. Warten wir es mal ab. Ich denke, es ging ihm auch darum, ein paar Schlagzeilen zu machen, um den Handball noch mehr in den Fokus zu rücken. Das gelingt Bob mit seinen Ideen oft ganz gut.
ran: Sprechen wir zum Abschluss noch über Ihre persönliche Situation. Sie befinden sich nach 19 Spieltagen mit dem TBV Lemgo Lippe im Abstiegskampf auf Platz 12. Wie ist Ihr Blick auf das neue Jahr?
Kehrmann: Ich sträube mich dagegen, nur nach unten zu schauen. Die Liga ist oben und unten sehr eng beieinander. Es sind ja auch "nur" vier Punkte auf den sechsten Platz. Wir haben die Qualität, die Saison im gesicherten Mittelfeld abzuschließen. Das wäre ein großer Erfolg, bedenkt man, dass wir nicht den Etat von Stuttgart, Hamburg, Leipzig oder Göppingen haben. Da können wir nicht mithalten. Wir müssen junge Talente ausbilden und das gelingt uns ganz gut bislang.