Tour de France
Tour de France - Ex-Profi Marcel Wüst: "Wie ein Friedhof auf zwei Rädern"
- Aktualisiert: 05.07.2023
- 10:34 Uhr
- ran.de / Timo Nicklaus
Mit der Tour de France startet ab Samstag (1. Juli) das größte und prestigeträchtigste Radrennen der Welt. Die Rundfahrt ist und bleibt eine Faszination, auch in diesem Jahr verspricht der Etappenplan viel Spektakel. Im Fokus stehen zwei Favoriten, überschattet wird das Rennen aber von einer Tragödie.
Es gibt große Radrennen. Den Giro in Italien, die Vuelta in Spanien. Dazu die Frühjahrsklassiker wie Paris-Roubaix oder die bedeutenden Rennen in den Ardennen.
Und es gibt die Tour de France.
Die dreiwöchige Rundfahrt quer durch Frankreich ist und bleibt ein Mythos. Spektakel pur. Das größte und populärste Radrennen der Welt. Mit Abstand.
Jedes Jahr im Juli - dann, wenn Fußball, Basketball, Eishockey & Co in der Sommerpause ruhen - blickt der geneigte Sport-Fan gerne nach Frankreich. In die Pyrenäen, die Alpen. Die Vogesen und natürlich nach Paris - auf den Champs-Elysees.
Tour de France 2023: Viele Berge, wenig Chancen für Sprinter
Das ist eben so. Völlig normal, weiß auch Marcel Wüst. "Es hat sich einfach so entwickelt", sagt der ehemalige Radprofi im Gespräch mit ran. Der heute 55-Jährige nahm selbst zweimal an der Tour teil und konnte im Jahr 2000 sogar eine Etappe beim prestigeträchtigsten Radrennen der Welt gewinnen: "Das Interesse ist einfach unglaublich groß. Und eben weil dieses Interesse so groß ist, ist die Tour für Sponsoren, Teams und Fahrer auch so wichtig. Das ergibt sich so gesehen gegenseitig."
Hinzu kämen banale Gründe wie beispielsweise die Jahreszeit: "Die Tour ist im Juli, in Europa haben fast alle Ferien, machen Urlaub. Man hat meistens schönes Wetter. Das sind alles Faktoren", so Wüst.
Der Start der 110. Tour de France erfolgt am 1. Juli im spanischen Bilbao. Über die Pyrenäen, Alpen und Vogesen geht es dann bis zum 23. Juli nach Paris. Ein knackiges Profil ohne viele Zeitfahrkilometer. Wüst schätzt ein: "Es geht im Prinzip von Beginn an knackig los. Es gibt kein Zeitfahren, schon die erste Etappe hat ordentlich Profil. Dann geht's schon an Tag vier in die Pyrenäen, man kann sich also nicht lange verstecken und muss direkt die Karten auf den Tisch legen."
Nur sieben deutsche Fahrer am Start
Von den Favoriten rund um die beiden Ausnahmefahrer Tadej Pogacar (Slowenien) und Jonas Vingegaard (Dänemark) erwartet sich Wüst daher einen frühen Schlagabtausch: "Eigentlich haben nur die beiden eine Chance auf das Gelbe Trikot. Aus Sicht von Jumbo-Visma würde ich direkt von Anfang an volle Attacke fahren, um zu gucken, wie fit Pogacar ist. Er kommt aus einer Verletzung, sowas auszunutzen gehört im Radsport nun mal dazu."
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Und die deutschen Fahrer?
In Phil Bauhaus, Nikias Arndt (beide Bahrain-Victorious), Nils Politt, Emanuel Buchmann (beide Bora-Hansgrohe), Simon Geschke (Cofidis), John Degenkolb (DSM-Firmenich) und Georg Zimmermann (Intermarche-Circus-Wanty) sind nur sieben deutsche Fahrer am Start - so wenig wie zuletzt 1999. Grund zur Sorge? Wüst: "Dieses Jahr sind nur sieben Fahrer dabei, nächstes Jahr vielleicht wieder 17. Das ist jetzt keine Krise, in der der Sport hierzulande steckt. Dass wir keine Radsport-Nation sind, war schon immer so."
Gegen eine ähnliche Geschichte wie die um Simon Geschke, der letztes Jahr insgesamt 9 Etappen das Bergtrikot trug, hätte Wüst nichts einzuwenden: "Simon ist einfach ein echter Typ. Das war richtig geil. Man muss schauen, was dieses Jahr für die deutschen Fahrer geht. Es wird wieder ein Spektakel, die Leute werden begeistert sein."
3405 Kilometer stehen auf dem Plan
Für Top-Sprinter, wie der gebürtige Kölner einst einer war, gibt es hingegen nur wenige Chancen. Das sei irgendwo schade, meint Wüst und sagt: "Auf der anderen Seite macht es auch das Spektakel aus. Die Tour wird immer knallhart gefahren und als Sprinter muss man schauen, welche Rosinen man sich rauspicken kann. Der Rest ist Überlebenskampf."
Die Anstrengung, das Kämpfen, die Leidensfähigkeit - all das gehört eben auch dazu.
Wüst: "In der dritten Tourwoche ist man physisch eigentlich schon gestorben. Das ist ein Friedhof auf zwei Rädern. Wenn du die Fahrer zum Internisten schicken würdest, dann würde der sagen: 'Oh oh, sie sind dehydriert und untergewichtig, bitte schnell eine Pause.' Aber so ist das nicht, am nächsten Tag werden eben wieder 200 Kilometer gefahren. Es gibt keine Auswechselspieler, alle sind gleich kaputt."
Und weiter: "Man wird nicht Radprofi, weil man Kohle verdienen will, sondern es ist eben ein Kindheitstraum. Und es gibt Träume, die man sich nicht kaufen kann. Alle Fahrer, die am Start stehen, sind extrem willensstark und sind gewissermaßen prädestiniert dafür, Dinge zu tun, die für den Normalsterblichen unerreichbar scheinen."
Insgesamt 3.405 Kilometer werden die Fahrer auf 21 Etappen zurücklegen. Für viele heißt das Ziel Paris - einige werden die Rundfahrt aber auch früher beenden müssen. Wüst musste 1992 einst selbst die Tour aufgeben, stürzte in einer Abfahrt und brach sich das Schlüsselbein.
Gino Mäder: Tragödie überschattet Vorbereitung
Viel schlimmer sein Unfall im Jahr 2000. Bei einem Rennen in Südfrankreich stieß er mit einem französischen Mitfahrer bei Tempo 60 zusammen und verlor sein rechtes Augenlicht. "Stürze und Verletzungen gehören leider Gottes dazu", sagt Wüst, der auch über die jüngste Tragödie rund um den Schweizer Gino Mäder spricht.
Der 26-Jährige verunglückte vor zwei Wochen bei der Tour de Suisse - einer Rundfahrt, die klassischerweise zur finalen Vorbereitung für die Tour de France gilt.
"Wir haben im Radsport nun mal dieses krasse Berufsrisiko. Es gibt keine Strecken, die extra für uns gemacht sind. Unsere Arena ist draußen die Straße. Das sind Passstraßen ohne Leitplanken oder im Training halt normale Straßen mit normalen Autofahrern", so Wüst: "Man versucht das Risiko zu minimieren, aber jeder aufs Rad steigt weiß, dass jederzeit der falsche Moment sein kann."