Mehr Problem als Lösung?
BVB: Wird Emre Can erneut zum Sorgenkind bei Borussia Dortmund?
- Aktualisiert: 24.08.2023
- 19:25 Uhr
- Justin Kraft
Emre Can hat die Kurve bekommen. Beim BVB ist er mittlerweile sogar Kapitän. Und doch steht der Nationalspieler für vieles, was bei Borussia Dortmund nicht gut läuft. Eine Analyse.
Anfang des Jahres gab Emre Can im "kicker" ein in Teilen selbstkritisches, aber auch selbstbewusstes Interview. "In Deutschland wurde ich schon immer kritischer gesehen", erklärte der Mittelfeldspieler damals sein Gefühl der fehlenden Wertschätzung. Er wisse aber auch, "dass ich nicht den besten Fußball gespielt habe, seit ich in Dortmund bin".
Damals deutete einiges darauf hin, dass das Kapitel mit dem BVB im Sommer enden könnte. Sein Vertrag lief noch bis 2024. Mehr als ein halbes Jahr später hat sich die Situation aber komplett verändert.
Can hat seinen Vertrag in Dortmund bis 2026 verlängert und ist mittlerweile sogar Kapitän. "Emre hat sich in der abgelaufenen Saison zu dem Führungsspieler entwickelt, den wir immer in ihm gesehen haben", sagte Sportdirektor Sebastian Kehl über den 29-Jährigen.
Edin Terzic soll sogar den Transfer von Edson Álvarez abgelehnt haben, weil er die Position im Mittelfeld mit Can schon besetzt sah. Vor allem in der Rückrunde hatte Can großen Anteil daran, dass Dortmund bis zur letzten Sekunde der Saison auf den Meistertitel hoffen durfte.
Das Wichtigste zum BVB
Doch schon am ersten Spieltag gegen den 1. FC Köln (1:0) zeigten sich Probleme, die zu großen Teilen mit Can zusammenhängen – und die den BVB aus einer anderen Perspektive vielleicht sogar den Meistertitel gekostet haben.
BVB: Paradoxe Situation rund um Emre Can
Die Personalie Can ist paradox. Denn einerseits hat Borussia Dortmund berechtigte Argumente, nicht nur mit dem Nationalspieler zu verlängern, sondern ihm auch innerhalb der Kabine eine größere Bedeutung zu verleihen. Der gelernte Mittelfeldspieler ist sportlich auf mehreren Positionen einsetzbar und kann viele Defensivrollen mit Zweikampfstärke, Laufbereitschaft und gesunder Aggressivität ausführen.
Auch abseits sportlicher Qualitäten geht er voran. Can versteckt sich nicht, gibt Interviews in guten und schlechten Zeiten und wirkt dabei immer authentisch. Dass seine Emotionen auf dem Platz hin und wieder mit ihm durchgehen, nehmen ihm viele Fans nicht (mehr) übel.
Im letzten Halbjahr ist sein Spiel fehlerfreier geworden. Weniger verschuldete Standards in Tornähe, weniger eklatante Ballverluste vor dem eigenen Tor, mehr starke Zweikämpfe und mehr Sicherheit im eigenen Spiel. Doch, dass er nun der Kapitän dieses Teams ist, könnte Edin Terzic trotzdem zum Verhängnis werden.
Externer Inhalt
Borussia Dortmund: Das Mittelfeld bleibt ein Problem für Edin Terzic
Denn Can verkörpert eines der größten Probleme, die diese Mannschaft hat: Der Spielaufbau ist eines Topteams viel zu oft nicht würdig. Dortmund spielt den Ball viel zu oft quer, lässt den Gegner in Ruhe verschieben und findet anschließend keine Lücken. Ohne Jude Bellingham, der in der jüngeren Vergangenheit den Großteil des Ballvortrags auf seinen Schultern trug, fällt das noch stärker auf.
Borussia Dortmund - Streichkandidaten: Wechselt Giovanni Reyna in die Niederlande?
Kritisieren kann und muss man dafür das Trainerteam. Schon in seiner ersten Amtszeit gelang es Terzic trotz der erfolgreichen Resultate nicht, eine Spielkultur beim BVB zu entwickeln, die gegen tief stehende Mannschaften konstant genug Lösungen hervorbringt. Hat Dortmund viel Ballbesitz und fehlt der frühe Dosenöffner im Spiel, wird es oft zäh.
Terzic hat verschiedene Dinge probiert, um das Mittelfeld zu beleben. Seine erfolgreichste Anpassung gelang ihm mit Julian Brandt. Als er den 27-Jährigen in der vergangenen Saison stärker ins zentrale Mittelfeld eingebunden hat, lieferte der seine vielleicht stärkste Saison im schwarz-gelben Trikot.
Trotzdem geht es im Spiel nach vorn zu sehr um Individuen und zu wenig um ein gemeinschaftliches Raumverständnis. Spieler nehmen sich häufig gegenseitig die Räume weg, verstecken sich hinter Gegenspielern oder sind schlicht nicht in der Lage, die Situation richtig zu lesen.
Emre Can macht das BVB-Spiel langsam
Hier ist Can auf einer elementaren Position ein Paradebeispiel. Zwar will er in Ballbesitz viel Verantwortung übernehmen, doch richtig gelingen will ihm das nicht. Der DFB-Kicker lässt sich häufig zwischen oder neben die Innenverteidiger fallen, kann von dort aber keine guten Ideen einbringen. Selbst wenn sich Mitspieler in Schnittstellen anbieten, entscheidet er sich meist für den einfachen Querpass und verschleppt so das Spiel.
Dortmund fehlt auf dieser Position ein vertikaler Spielmacher. Jemand, der die Defensivqualitäten Cans mit Passqualitäten verbindet, die einst Julian Weigl beispielsweise einbrachte – oder auch Mahmoud Dahoud zu seinen besseren Zeiten.
In den letzten Jahren konnte man den Eindruck gewinnen, dass sich der BVB zu sehr auf vermeintliche "Mentalitätsspieler" fokussiert hat – und dabei aus den Augen verlor, was die tatsächlichen Probleme auf dem Platz sind. Die Meisterschaft wurde nicht verloren, weil es den Spielern an Mentalität fehlte, sondern weil die Spielidee sowie die Umsetzung dieser nicht ausreichen, um über einen Großteil der 34 Bundesliga-Spiele Lösungen im Spiel nach vorn zu finden.
BVB: Zahlen unterstreichen Emre Cans Schwächen
Wenn es um Pässe mit vertikalem Raumgewinn geht, zählt Can weltweit nicht mal zu den besten 60 Prozent aller Mittelfeldspieler. In der vergangenen Bundesliga-Saison kam er auf rund 259 Meter vertikalen Raumgewinn pro 90 Minuten. Zum Vergleich: Joshua Kimmich (FC Bayern, 411 Meter), Josuha Guilavogui (VfL Wolfsburg, 350) oder auch Kristijan Jakic (Eintracht Frankfurt, 299) sind nur drei Bundesliga-Spieler, die auf mehr kommen.
Dabei hat Can gegenüber den meisten Spielern den Vorteil, dass Dortmund mit 58,3 Prozent mehr Ballbesitz hatte als 15 andere Bundesligisten, er also deutlich mehr Möglichkeiten hat, den Ball vertikal zu spielen. Die Statistiken unterstreichen seine Schwächen. Wer Can mit dem Ball am Fuß sieht, würde wohl kaum auf die Idee kommen, dass er ein Kreativspieler ist.
Er kann viele Dinge gut – vor allem im Defensivbereich. Doch als Sechser ist er im Spielaufbau zu oft überfordert. Dass er nun aber Kapitän ist, wird es Terzic zusätzlich erschweren, daran etwas zu ändern. Stellt der 40-Jährige ihm einen spielstärkeren Spieler an die Seite, fehlt offensiv eine zusätzliche Anspielstation. Probiert hatte der Trainer das in der vergangenen Saison bereits. Mit mäßigem Erfolg.
BVB muss zeitweise auf Haller verzichten: Die Ersatzkandidaten
Marcel Sabitzer wurde unter anderem dafür verpflichtet, doch der Österreicher ist dahingehend nicht mit Jude Bellingham zu vergleichen und ist am stärksten, wenn er einen spielstarken Partner hat. Sabitzer hat ein gutes Freilaufverhalten. Doch wird er nicht angespielt, kann er wenig ausrichten.
BVB: Edin Terzic steht vor Dilemma mit Emre Can
In der Innenverteidigung hat Terzic wiederum Spieler, die schlicht besser sind als Can. Und auf der rechten Defensivseite? Da hat sich Julian Ryerson festgespielt. Der ehemalige Unioner ist offensiv schon deshalb wichtig, weil er den jeweiligen Flügelspieler überläuft und so Räume aufreißt. Nicht die Paraderolle für Can.
Zumal die Offensivstärke der Außenverteidiger nochmal wichtiger wird, je horizontaler das Spiel des BVB angelegt ist. Geht es überwiegend quer, geht es eben oft über die Außenbahnen. Dementsprechend braucht es dort handlungsschnelle Spieler, die Drucksituationen auflösen können.
Dortmund steht also womöglich vor einem Dilemma, dessen Ausmaß vielen noch nicht bewusst ist. Mit der aktuellen Mittelfeldkonstellation wird es schwierig, Titel zu gewinnen. Und es ist für den Trainer schwierig, etwas zu verändern, weil Can einerseits im vergangenen Halbjahr einer der wichtigsten Spieler war, gleichzeitig aber eben für vieles steht, was dem BVB fehlt. Als Kapitän hat er nun ohnehin nochmal ein höheres Standing.
Ihn nach dieser Entwicklung zu kritisieren, dürfte ihn zu Recht darin bestärken, dass die Wertschätzung in Deutschland fehlt. Schließlich macht er im Rahmen seiner Möglichkeiten vieles richtig und wenig falsch. Und doch lieferte er die passende Begründung für die Kritik damals unbewusst selbst: Er spielt nicht den besten Fußball. Dortmund aber braucht mehr spielerische Leichtigkeit – und weniger von der häufig bemühten Mentalitätsfloskel, die den Klub seit jeher umgibt. Nicht alles davon ist auf Can zu projizieren. Aber einiges.