Nach Niederlage gegen Türkei
Linksverteidiger Kai Havertz: Nagelsmanns Experiment ruft Kritik hervor
- Veröffentlicht: 20.11.2023
- 11:27 Uhr
- Martin Volkmar
Julian Nagelsmann testet Kai Havertz bei der Niederlage gegen die Türkei als Linksverteidiger. Während der Bundestrainer von der Maßnahme überzeugt ist, äußert Lothar Matthäus Bedenken. Es gibt allerdings prominente Vorbilder, bei denen die Versetzung nach hinten funktioniert hat.
Genial oder verrückt? Über die Versetzung von Kai Havertz auf die völlig ungewohnte Linksverteidigerposition gibt es unterschiedliche Meinungen.
Dass in seinen mehr als sieben Jahren als Profi noch kein Trainer auf die Idee kam, den 24-Jährigen in die Viererkette zu versetzen, spreche für sich, meinen die Kritiker.
Julian Nagelsmann sieht das ganz anders, denn auch nach der Premiere beim 2:3 gegen die Türkei plant er offenbar weiter links hinten mit dem Arsenal-Profi.
"Ich sehe darin kein Risiko für ihn, sondern eine sehr, sehr große Chance, eine tragende Rolle bei einer Heim-EM zu spielen", erklärte der Bundestrainer:
"Er hat es Weltklasse gemacht, viele Situationen gelöst, ein Tor gemacht, vorne vieles bewegt."
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Havertz mit Schwächen in der Rückwärtsbewegung
Vermutlich war bei dieser Bewertung auch der Wunsch Vater des Gedankens, denn der nominell offensive Mittelfeldspieler zeigte vor allem in der Rückwärtsbewegung einige Schwächen, nicht nur beim von ihm unglücklich verursachten Handelfmeter zum 2:3-Endstand. Kein Wunder, da Havertz die Rolle eben noch nie vorher gespielt hat.
Doch Nagelsmann wollte sich seinen Coup nicht madig machen, schließlich könnte er damit im Idealfall eines der größten Probleme der deutschen Mannschaft lösen: Der Mangel an international wettbewerbsfähigen Außenverteidigern.
Links sind derzeit der Leipziger David Raum und Robin Gosens von Union Berlin die ersten Anwärter, doch Raum konnte bei der WM in Katar auf höchstem Niveau nicht überzeugen und Gosens steckt seit seinem Wechsel zu Union im Formtief.
Hinzu kommt, dass ihnen die defensiven Qualitäten abgesprochen werden, bei beiden kommen ihre Stärken also eher in der im DFB-Team schon mehrfach erfolglos getesteten Dreierkette zum Tragen.
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Überangebot im offensiven Mittelfeld
Wenn aber die verfügbaren Kandidaten nicht gut genug und obendrein zu offensiv sind, dann könne er ja auch einen seiner zahlreichen Top-Offensivspieler nach hinten ziehen, dachte sich Nagelsmann offenbar – um so auch in der Startelf Platz zu schaffen für das Überangebot an kreativen Mittelfeldkönnern.
"Wenn wir dort, wo er sonst bei Arsenal spielt, drei Weltklassespieler haben, neben Kai noch Jamal Musiala und Leroy Sane, dann will ich auch alle drei auf den Platz bringen", erklärte der DFB-Chefcoach, bei dem neben Musiala und Sane im offensiven Mittelfeld Florian Wirtz derzeit gesetzt ist. Und dahinter warten Julian Brandt, Thomas Müller oder Serge Gnabry auf eine Chance.
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Daher soll Havertz nun in der deutschen Viererkette vor allem bei Ballbesitz deutlich höher agieren als die anderen drei Mitspieler, ähnlich wie Alphonso Davies beim FC Bayern unter Nagelsmann. "Kai bringt von Größe, Geschwindigkeit, Qualität, Verantwortungsbewusstsein alles mit, um so einen offensiven Joker zu spielen", erklärt der DFB-Chefcoach.
Lothar Matthäus zeigt sich nicht überzeugt
Für Rekord-Nationalspieler Lothar Matthäus ist das aber eine falsche taktische Entscheidung, weil die Abwehr somit wieder mit einer Dreierkette agiere, "die die deutsche Mannschaft nicht beherrscht". Außerdem, so der Rekord-Nationalspieler mit Blick auf den Elfmeter weiter: "Franz Beckenbauer hat mal gesagt, ein Stürmer hat im eigenen Strafraum gar nichts zu suchen."
Was Nagelsmann allerdings ganz anders sieht. Vielmehr ist er offenbar der Meinung, dass ein solcher Positionswechsel für Topprofis kein größeres Problem ist: "Ich finde es immer lustig, dass man Weltklassespielern nicht zutraut, auf einer ein bisschen anderen Position zu spielen. Über Tennisprofis wird auch nicht gesagt, sie könnten es nur auf Sand, und auf Gras geht gar nichts."
Ein Vergleich, den man sowohl wegen der Unterschiede der beiden Sportarten als auch der Tatsache, dass es im Tennis für die verschiedenen Untergründe durchaus Spezialisten gibt, kritisch beurteilen kann. Doch laut Nagelsmann kann Havertz "auf sechs Positionen spielen".
Havertz hat noch nie als Außenverteidiger gespielt
Vier davon waren allerdings bislang offensiv ausgerichtet, nämlich neben der Rolle als teilweise hängender Mittelstürmer die drei Positionen links, rechts und zentral hinter den Spitzen. Ansonsten hat Havertz lediglich zu Beginn seiner Karriere in Leverkusen unter den Trainern Roger Schmidt und Heiko Herrlich einige Begegnungen zentral vor der Abwehr gemacht.
Die sechste Position aber, nämlich als Außenverteidiger, hat Havertz nie gespielt. Neuland auf höchstem Niveau, bei der EM mit möglichen Duellen gegen Weltklasse-Außenstürmer wie Kylian Mbappe. Aber bange machen gilt offenbar nicht für Nagelsmann.
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Ziege, Fritz, Kuyt: Es gibt prominente Vorbilder
Vielleicht hatte er ein paar prominente Vorgänger im Kopf, wenngleich deren Versetzung von vorne nach hinten schon einige Jahre zurückliegt. Etwa Christian Ziege, der als Stürmer zum FC Bayern kam und dort in den 90ern zum Top-Linksverteidiger umgeschult wurde. Ähnlich wie ein Jahrzehnt später Clemens Fritz vom rechten Offensivakteur zum Rechtsverteidiger, der mit der DFB-Auswahl 2008 sogar das EM-Finale erreichte.
Oder Nagelsmann dachte an den Niederländer Dirk Kuyt, der 14 Jahre lang als Offensivspieler Erfolge mit den Niederlanden und dem FC Liverpool feierte, ehe ihn Trainer-Guru Louis van Gaal vor der WM 2014 mit Erfolg zum Außenverteidiger der Elftaal umfunktionierte.
Vielleicht weiß der Bundestrainer ja, dass Havertz' Großmutter Niederländerin ist.