Turnier in Katar
WM 2022: Urs Meier kritisiert VAR - "Schiedsrichter wirken dann wie gehemmt"
- Aktualisiert: 15.12.2022
- 15:28 Uhr
- ran.de
VAR oder lieber nicht VAR - das ist im modernen Fußball eine häufig gestellte Frage. Urs Meier würde die Zeit hier gerne wieder zurückdrehen, denn die Präsenz und die Körpersprache der Schiedsrichter leide darunter. Der einstige FIFA-Referee ordnet auch die Leistungen der Unparteiischen bei der WM 2022 ein und schaut dabei speziell auf das Viertelfinale.
Von Marcus Giebel
München - Beim Fußball und speziell bei Turnieren wie der WM 2022 dreht sich alles um die großen Stars. Cristiano Ronaldo. Lionel Messi. Kylian Mbappe. Neymar.
Wenn dann doch einmal ein Schiedsrichter die Schlagzeilen bestimmt, ist das in aller Regel ein Alarmsignal. Diese Erfahrungen machten nach dem Viertelfinale der Spanier Antonio Mateu Lahoz, der das Spiel Niederlande gegen Argentinien (5:6 nach Elfmeterschießen) pfiff, und der Brasilianer Wilton Sampaio, der Englands 1:2-Niederlage gegen Frankreich leitete.
Eine gute Gelegenheit, um mal genauer auf die Leistungen der Unparteiischen in Katar zu schauen.
Im ran-Gespräch äußert sich der ehemalige FIFA-Schiedsrichter Urs Meier, der zwischen 1998 und 2004 bei vier großen Turnieren Spiele leitete, über die Auftritte der Männer und Frauen an der Pfeife, den VAR und seine persönliche Finalnominierung.
Urs Meier über …
… die WM-Leistungen der Schiedsrichter:"Generell wurden die Spiele fair ausgetragen, von daher waren auch die Schiedsrichterleistungen mehrheitlich in Ordnung. Es gab sehr gute Schiedsrichterleistungen, es gab weniger gute Schiedsrichterleistungen. Was mich überrascht: Dass wir in den Viertelfinalspielen viele Diskussionen hatten. Eigentlich wurden die Schiedsrichterleistungen immer besser, je länger ein Turnier dauerte. Umso besser wurde die Qualität, weil die besten eigentlich zum Schluss eingesetzt wurden."
… die Kritik an Lahoz nach dem Spiel Niederlande gegen Argentinien: "Ich habe es so mitgekriegt, dass man die Entscheidungen nicht mehr nachvollziehen konnte, dass die unverständlich waren. Dass sie zum Teil willkürlich waren. Die Gelben Karten, die er da geben musste, hatten ja zum Teil überhaupt keine Wirkung mehr, er hatte das Spiel auch verloren. Er konnte pfeifen und die Spieler haben gar nicht mehr zugehört, gar nicht mehr reagiert auf den Schiedsrichter. Das ist das Schlimmste, was passieren kann. Der gleiche Schiedsrichter hat das Spiel USA gegen Iran - ein politisch schwieriges Spiel - sehr gut geleitet."
… seine Meinung zu Lahoz und Wilton Sampaio (beim Spiel England gegen Frankreich): "Es war für mich keine Spielleitung mehr, in beiden Fällen wurden ganz elementare Sachen übersehen - nicht schwierige Sachen. Weil man zum Teil falsch gestanden hat, die Konzentration nicht da war. Dadurch verliert man auch die Akzeptanz in solchen Spielen. Das sind Spiele, da müssen die Pfiffe, die Ansagen, die Mimik, Gestik - das muss alles stimmen. Das erwarte ich von Schiedsrichtern auf diesem Niveau - ganz klar zumindest ab den Viertelfinalspielen."
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… die uruguayischen Vorwürfe gegen Daniel Siebert: "Was vielleicht nicht ganz geschickt war: Wenn du zwei- oder dreimal wegen des Videoassistenten draußen warst und dir die Szenen angeschaut hast, warum du dann beim vierten Mal - bei der für Uruguay vielleicht entscheidenden Szene - nicht rausgehst. Auch wenn du dich dann gegen einen Elfmeter entscheidest, aber es zumindest abdeckst. Das wäre vielleicht das, was ich Daniel Siebert so mitteilen würde, wenn ich mit ihm sprechen würde. Der Druck war in dem Moment so groß. Außer wenn du dir zu 200 Prozent sicher bist und sagst: In 300 Jahren ist das kein Elfmeter. In dem Moment haben die Uruguayer das erwartet. Das ist das, was ihm vorgeworfen wird: 'Geh es doch zumindest anschauen.' Dann kann man es nachvollziehen, als Spieler von Uruguay hätte ich das auch verlangt."
… die Frage nach der Autorität der Schiedsrichter in Zeiten des VAR: "Durch den VAR haben sie nicht mehr dieselbe Präsenz, nicht mehr dieselbe Körpersprache. Ich sage immer: Schaut mal die Bundesliga an, wenn da die zweite Pokalrunde gespielt wird (ohne VAR, d. Red.). Wie da die Schiedsrichter auftreten, wie sie Entscheidungen treffen, wie sie eine Klarheit haben. Auf einmal können sie es. Immer in der zweiten Pokalrunde. Das ist mir in den vergangenen zwei Jahren aufgefallen. Und kaum ist die zweite Pokalrunde wieder vorbei, man hat den Videoassistenten wieder, dann ist man wieder im alten Fahrwasser. Die Entscheidungen dauern wieder viel länger, bis man einen Elfmeter gibt. Gibt man überhaupt einen Elfmeter? Man kann ja nochmal nachschauen. Sie könnten es eigentlich, aber der VAR nimmt ihnen dieses Selbstverständliche, dieses schnelle und aktive Handeln. Das ist irgendwie wie weggeblasen. Sie wirken dann wie gehemmt."
… das VAR-Dilemma: "Bild im Fernsehen und Bild auf dem Platz - unterschiedlicher geht es oft gar nicht. Am Bildschirm kannst du die Absicht nicht erkennen, das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Das erkennst du nur auf dem Platz. Ein Blick, eine Geste, ein falscher Schritt. Absicht entsteht meistens schon vorher, das hat meistens eine Geschichte. Wenn du Entscheidungen triffst, ohne die Absicht zu berücksichtigen, dann triffst du falsche Entscheidungen. Die Spieler auf dem Platz, die Trainer, die Zuschauer am Platz - die spüren das. Die spüren diese Absicht. Die spüren, dass da was falsch ist. Der vor dem Fernseher spürt es nicht, weil er nicht im Stadion ist. Er hat die ganzen Bilder nicht. Jetzt hast du jemanden, der nur Fernsehbilder schaut. Und du hast den anderen, der auf dem Platz ist. Dann hast du Konfliktpotenzial."
… einen VAR im Stadion: "Der Videoassistent muss ein Teil des Spiels sein, er muss das spüren, er muss das sehen. Er muss auch das Spiel sehen, ohne dass er auf dem Bildschirm schaut. Er muss das Spiel wie ein Schiedsrichter anschauen. Und wenn etwas ist, dann hat er die Bilder, dann kann er auf Bilder zurückgreifen und dem Schiedsrichter vielleicht helfen. Aber er hat es schon selbst gesehen und die Absicht erkannt. Genau das habe ich schon lange gefordert. Er muss ins Stadion - und zwar nicht irgendwo in den Keller, sondern so, dass er das Spielfeld sieht. Dann könnte er einen Mehrwert haben."
… die VAR-Frage: "Mein Wunsch wäre - aber der wird wahrscheinlich nicht erhört: Zurück zu dem, was wir hatten. Tor oder nicht Tor - dieses Tool brauchen wir. Ich kann mir auch vorstellen, dass wir die Frage Abseits oder nicht Abseits mit der Technik lösen können. Das sind Schwarz-Weiß-Entscheidungen. Aber da, wo es Grau-Entscheidungen gibt, da muss der Schiedsrichter die Hoheit wieder haben."
… das große Leistungsgefälle unter den WM-Schiedsrichtern: "Ich sage immer wieder: Afrikaner, Asiaten, Ozeanier und so weiter sind grundsätzlich nicht die schlechteren Schiedsrichter als die Europäer. Aber sie haben nicht die gleichen Möglichkeiten wie die Europäer. Wir haben die Champions League und diese Liga ist einfach Gold wert für die Schiedsrichter. Das ist die Formel 1 im Fußball. Da lernst du, Spiele auf diesem Niveau, mit diesem Tempo, mit dieser Dynamik leiten zu können. Das hilft dir bei einer WM. Die, die das nicht haben, kommen aus der Formel 2 in die Formel 1. Da braucht es meistens etwas Anlaufzeit - die haben sie aber nicht. Höchstens ein Spiel. Und wenn das nicht gutgeht, dann gehen sie wieder nach Hause. Dann heißt es: keine gute Leistung. Aber warum war die Leistung nicht gut? Weil er halt überfordert war mit dem Spiel, weil es zu schnell ging und er es noch gar nicht richtig trainieren durfte. Ich sage immer, die Schiedsrichter aus Afrika, Asien, Ozeanien und so weiter müssten eigentlich auch Spiele in der Champions League leiten dürfen. Oder in der Europa League. Damit sie an dieses Tempo, dieses Niveau herangeführt werden. Das wäre auch etwas, was man im Vorfeld machen könnte. Das ist einfach schade, für die Schiedsrichter, dass sie in gewissen Bereichen überfordert sind."
… seine Favoriten unter den WM-Schiedsrichtern: "Wer mich in seinem letzten Spiel überzeugt hat, war Michael Oliver aus England (im Viertelfinale Kroatien gegen Brasilien - 5:3 nach Elfmeterschießen, d. Red.). Das hat er sehr, sehr gut gemacht. Danny Makkelie habe ich schon lange auf meinem Zettel, das ist ein Guter. Und wer immer stärker wird und wem ich auch ein Finale zutraue, ist der Pole Szymon Marciniak. Ganz starke Leistungen bisher, gute Ausstrahlung, gute Spielleitung. Das sind alles alte Bekannte aus der Champions League. Aber gerade Michael Oliver hat sich in diesem Turnier von einer guten Seite gezeigt."
… seinen Final-Schiedsrichter: "Ich würde Marciniak nehmen. Ich finde den von seiner Ausstrahlung, von seiner Spielleitung her wunderbar."