Nach WM-Gold in Tokio
Leichtathletik-WM: Leo Neugebauer der neue Superstar? Frank Busemann exklusiv: "Dann wird einem schwindelig"
- Veröffentlicht: 26.09.2025
- 13:47 Uhr
- Chris Lugert
Leo Neugebauer ist spätestens seit seinem WM-Titel im Zehnkampf der neue Star der deutschen Leichtathletik. ran sprach mit Frank Busemann über den neuen Weltmeister und die kommenden Jahre.
Das Interview führte Chris Lugert
Die Leichtathletik-WM in Tokio war aus deutscher Sicht ein Erfolg, insgesamt fünf Medaillen gewannen die Athleten des DLV. Besonders die Goldmedaille von Zehnkämpfer Leo Neugebauer am letzten Wettkampftag und ihr Zustandekommen sorgten für große Emotionen.
Im Interview mit ran spricht Frank Busemann, Olympia-Silbermedaillengewinner im Zehnkampf von 1996, über Neugebauers Leistungen und sein Potenzial in den kommenden Jahren - nicht nur als Sportler, sondern auch als Botschafter der deutschen Leichtathletik.
Außerdem erklärt der heutige "ARD"-Experte, von welchen Vorteilen Neugebauer in seinem Alltag in den USA profitiert und wo Deutschland diesbezüglich Nachholbedarf hat.
ran: Herr Busemann, die deutschen Leichtathleten haben bei der WM fünf Medaillen gewonnen und Platz vier in der Nationenwertung belegt. Wie fällt Ihr Fazit aus?
Frank Busemann: Eigentlich ist alles gut gelaufen. Ich bin schon mit einem sehr guten Gefühl hingefahren, voller Optimismus, obwohl ich ja gar nichts damit zu tun habe. Aber ich habe mich echt darauf gefreut. Am ersten Tag hatte die Mannschaft so ein paar Probleme, sie kam nicht richtig rein. Aber dann gab es die drei Medaillen, und Medaillen strahlen natürlich immer ein bisschen heller als Platzierungen, obwohl die natürlich auch nicht schlecht sind. Dann hatten wir so einen kleinen Durchhänger, bei dem man dachte: Wenn es so bleibt, würde etwas fehlen.
Aber der letzte Tag hat es komplett herausgerissen. Dadurch sind wir mit einem richtig guten Gefühl aus der Veranstaltung herausgegangen. Das Teamergebnis stimmte, die Medaillen stimmten. Das war schön anzugucken, und auch den Spirit der Mannschaft, also der Athletinnen und Athleten, fand ich gut. Dass die sich nicht versteckt haben, dass die da optimistisch reingegangen sind, alles rausgeholt haben, das Beste gegeben haben, mehr kann man nicht erwarten und das war gut.
Busemann über Neugebauer: "Hat sich den WM-Titel erkämpft"
ran: Alles überragend war die Goldmedaille von Zehnkämpfer Leo Neugebauer am finalen Tag. Wie haben Sie als ehemaliger Zehnkämpfer seinen Wettkampf gesehen?
Busemann: Vor den letzten beiden Disziplinen habe ich gesagt, dass er keine Chance mehr auf den Sieg hat. Denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass er diese Bedingungen, nämlich in den letzten zwei Disziplinen zwei exorbitant gute Bestleistungen, erfüllt. Und dann haut er so einen raus. Das war doppelt schön. Ihm wurde der WM-Titel nicht geschenkt, sondern er hat ihn sich erkämpft. Mir geht immer das Herz auf, wenn sich einer am Ende so verausgabt, dass er von der Bahn gekratzt werden muss. Das hat er gemacht und das war großes Kino.
ran: Gibt es bei Neugebauer auch die Möglichkeit, noch besser zu werden?
Busemann: Ja, selbstverständlich. Der hat erst einen vernünftigen Zehnkampf gemacht, und das waren diese 8.961 Punkte im Juni 2024 in Eugene. Das, was er jetzt in Tokio gezeigt hat, ist das, was er kann. Das ist nichts, was irgendwie vom Himmel gefallen ist und was er nie wieder wiederholen kann. Auch bei diesem Zehnkampf waren Disziplinen dabei, bei denen er Luft nach oben hatte. Der Stabhochsprung war okay, der Hürdenlauf war nicht gut, Weitsprung kann er besser, den 100-Meter-Lauf ebenso. Wenn man das alles berücksichtigt und überlegt, was sein Potenzial ist – dann wird einem schwindelig. Die Tendenz geht Richtung 9.000 Punkte.
ran: Neugebauer ist jetzt 25 Jahre alt. In welchem Alter erreichen Zehnkämpfer im Normalfall ihren Leistungszenit?
Busemann: Man sagt so zwischen 25 und 30. Mit 25 kapiert man so langsam, was man da überhaupt macht. Vorher hat man keine Ahnung. Da muss man eben so ein paar Erfahrungen machen, wie er sie vor zwei Jahren in Budapest gemacht hat. Das passiert dann in der Frühzeit der Karriere und man kann es für sich nutzen. Wenn man gesund bleibt, ist 25 bis 30 ein super Alter, weil man noch frisch ist und mental so stark, dass man auch mit Widrigkeiten und Rückschlägen innerhalb des Zehnkampfes umgehen kann. Die gibt es nämlich immer. Leo hat schon vieles erreicht. Ab jetzt ist alles Kür, denn mehr als Weltmeister – also der Weltbeste – geht ja nicht. Klar, Olympiasieger wäre großartig, aber auch da hat er schon eine Medaille.
ran: Kann jemand wie Neugebauer die gesamte deutsche Leichtathletik mitziehen und vielleicht auch bei Kindern und Jugendlichen ein Zugpferd sein, um sie überhaupt zu diesem Sport zu bringen?
Busemann: Ja, genau solche Typen braucht man dafür. Leute, die einen mitnehmen, die eine positive Ausstrahlung haben, die mit offenen Armen dastehen und die Welt umarmen. Da will man keine Stinkstiefel und Miesepeter, da will man Leute, die eine positive Ausstrahlung haben und Topleistung bringen. Ein kleines Hemmnis ist natürlich, dass er in den USA wohnt. Deshalb findet er hier nicht ganz so intensiv statt. Wobei generell auch die gesamte Leichtathletik nicht jeden Monat stattfindet. Und Zehnkämpfer sind jetzt auch nicht jedes Wochenende im Stadion, wie etwa Fußballer. Aber der Name ist jetzt bekannt. Vor Olympia in Paris kannten ihn nur Insider, dort hat er sich dann ins Rampenlicht geschossen und die nächste Raketenstufe gezündet.
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Busemann: "In den USA ist Sport kein Hobby, sondern ein Job"
ran: Sie haben es angesprochen, Neugebauer lebt bereits seit Jahren in den USA. Zunächst hat er am College studiert, jetzt hat er sein Studium beendet und ist Vollprofi. Welche strukturellen Vorteile haben Athleten dort im Vergleich etwa zu Deutschland?
Busemann: Die machen Sport auf allerhöchstem Niveau mit den allerbesten Möglichkeiten. Wir haben auch Sportplätze, wir haben auch Hallen, Physiotherapeuten, gute Trainer. Wir haben bestimmte Mittel zur Verfügung, dass man eben auch mal einen Speer wegschmeißen kann oder nicht in den tiefsten Geräteraum gucken muss, ob von 1942 noch einer übergeblieben ist. Das ist ja auch bei uns alles finanzierbar. Unser Problem ist eher, dass Trainer häufig im Ehrenamt sind. Oder wenn sie im Hauptamt sind, dann nicht genügend Wertschätzung oder finanzielle Mittel erhalten. Das führt dazu, dass so mancher Athlet, der Potenzial hätte, aber momentan in der zweiten Reihe steht, sich für das Berufsleben entscheidet.
In den USA ist alles aufeinander abgestimmt. Am College zum Beispiel gibt es eine feste Vorgabe: Das habt ihr zu studieren, das habt ihr zu machen, das sind die Kurse. Da gibt es Leute, die managen das für einen, die integrieren den Sport so, dass es passt. Hier ist es so, dass ein Uni-Professor auch mal sagt: 'Weltmeisterschaft? Das ist Privatvergnügen, dafür verlege ich keine Klausur. Es ist ihre Schuld, wenn Sie Sport machen.' Die Bedingungen sind einfach viel professioneller in den USA, weil Sport einen ganz anderen Stellenwert hat. Dort ist es kein Hobby, sondern ein Job. Aber ich habe mich vor 30 Jahren bewusst dagegen entschieden, in die USA zu gehen. Und Leute wie Niklas Kaul zeigen ja, dass es auch hier klappen kann.
ran: Ein kleines Sorgenkind der deutschen Leichtathleten sind aktuell die jahrelang so starken Werfer. Zwar hat Merlin Hummel in Tokio Silber im Hammerwurf gewonnen, aber gerade im Diskus- und Speerwurf hapert es. Was sind die Gründe?
Busemann: Das ist eine gute Frage. Früher war der Wurfsektor ja eine Medaillenbank. Da konnte man sagen: Fünf Medaillen bringen die mit nach Hause. Das ist nicht mehr so. Ich weiß nicht, woran das liegt. Ob das noch an der alten Schule lag, weil Leichtathletik noch ein bisschen klassischer gelebt wurde? Zusätzlich haben wir natürlich auch lange von der Wiedervereinigung profitiert. Womöglich dachten die Generationen danach auch, dass der Wurfsektor so stark ist, dass sie lieber Springer oder Läufer werden, weil die Chancen größer sind. Große Erfolge haben manchmal nicht nur eine Sogwirkung, sondern rufen auch Zukunftsangst hervor. Aber das ist nur Spekulation. Vielleicht wachsen die Leute auch nicht nach, weil sie sich lieber für Fußball, eSport oder Fernsehgucken entscheiden.
Busemann: "Ansprüche von vor 20 Jahren sind nicht mehr realisierbar"
ran: Eine tragische Figur ist Speerwerfer Julian Weber, der immer wieder herausragende Leistungen zeigt und zur absoluten Weltspitze gehört, bei Weltmeisterschaften und Olympia aber noch keine Medaille gewonnen hat …
Busemann: Ich will nicht sagen, dass es dramatisch ist, aber bei den letzten globalen Großereignissen landete er auf Platz vier bis sechs. Da kann man sagen, das ist ein konstanter Weltklasse-Athlet, aber der Ausreißer nach oben fehlt. Dieses Mal war es total ätzend, dass er eine Woche vor dem Wettkampf Fieber bekommen hat. Da denkt man vielleicht: Was ist schon ein bisschen Fieber? Aber im High-End-Bereich ist so ein bisschen Fieber halt das kleine Bisschen, das fehlt. Zwei Meter weniger, die dann am Ende Platz fünf statt eins bedeuten.
ran: Wie sehen Sie die deutsche Leichtathletik generell für die Zukunft aufgestellt? Wo gibt es Verbesserungsbedarf?
Busemann: Das Problem in der deutschen Leichtathletik ist der Übergang zwischen Jugend- und Erwachsenenbereich. Da fragt man sich natürlich, warum es andere Nationen besser schaffen. Leichtathletik ist kein Selbstläufer. Leichtathletik ist mit Aufwand verbunden. Es ist eine einfache Sportart, die sehr schwierig ist. Laufen, Springen und Werfen kann die gesamte Welt. In keiner anderen Sportart gewinnen so viele unterschiedliche Nationen Medaillen. Das macht es so schwierig. Diese Ansprüche, die wir noch vor 20 Jahren hatten mit den ganzen Medaillen, sind nicht mehr realisierbar.
ran: Kann man konkrete Maßnahmen ergreifen, um wieder dauerhaft Weltspitze zu sein?
Busemann: Man muss nach links und rechts schauen, was andere Länder womöglich besser machen. Gerade vermeintlich kleinere Länder wie die Niederlande, Norwegen oder die Schweiz. Da muss man immer die Augen offenhalten. Aber das ist ein Prozess, das ist eine Generationenfrage, die Ressourcen, die man hat, zu nutzen und auszubauen. Und ob Änderungen erfolgreich sind, zeigt sich immer auch erst nach fünf Jahren. Man kann nicht etwas ändern und sofort steigern wir uns von drei auf zehn Medaillen. Entwicklungen brauchen Zeit. Athleten müssen verlässliche Partner haben, damit sie wissen, dass sie auch die Zeit bekommen, Verletzungen auszukurieren. Hier sind die Fördersysteme gefragt.