Bundesliga
Bayer Leverkusen - Weniger Plastik, mehr Rock 'n' Roll: Wie Xabi Alonso den Klub auf links gedreht hat
- Aktualisiert: 30.05.2024
- 10:37 Uhr
- Andreas Reiners
Xabi Alonso ist der Baumeister des Double-Erfolgs bei Bayer Leverkusen. Doch der Spanier hat mehr geschafft: Er hat einem Klub, der lange als selbstzufrieden und lethargisch galt, ein neues Selbstverständnis eingehaucht.
Zwei Sätze reichen. Vollkommen.
Kurz und knapp ist die Aussage, aber sie sitzt. Punkt. Nein, Ausrufezeichen!
Kein drumherum reden, keine Floskelei, sondern klare Kante.
Man könnte sie als übliches Ballyhoo abtun. Als typische Ansage nach einem Titelgewinn. Denn so klingt sie.
"Meisterschaft, Pokal - wir wollen die Titel verteidigen. Und lass' uns mal auch in der Champions League angreifen."
Jaja, das kennt man, im Rausch des Sieges haut man gerne mal einen raus, das gehört zum Geschäft.
Wenn das Adrenalin noch pumpt und die Emotionen Achterbahn fahren, trägt man gerne auch mal ein bisschen dick auf. Ist in zwei Monaten eh wieder vergessen.
Hinzu kommt: Granit Xhaka hat das gesagt, nach dem DFB-Pokalsieg von Bayer Leverkusen, mit dem der Klub nach der Meisterschaft das Double perfekt machte. Xhaka, der Lautsprecher.
Klar, wer auch sonst?
Das Wichtigste in Kürze
Bayer Leverkusen: Meist vorne, aber nie ganz oben
Doch diese ambitionierte Zielsetzung ist kein bloßes Tamtam aus dem biergetränkten Jubel heraus, sondern sie spiegelt die Entwicklung eines Vereins wider, der früher oft als selbstzufrieden und lethargisch galt.
Bayer 04 war in den letzten drei Jahrzehnten zwar die meiste Zeit im oberen Tabellendrittel zu finden.
Um die Jahrtausendwende holte sich der Verein alleine vier Vize-Meisterschaften ab, 2002 war man trotz einer herausragenden Saison am Ende Zweiter in Meisterschaft, DFB-Pokal und Champions League.
Und bekam spätestens da den wenig schmeichelhaften "Titel" Vizekusen verpasst.
Doch der Verein fand sich damit ab, und machte es sich in der eigenen, unbedarften, aber auch bieder-langweiligen Provinzialität gemütlich.
Wenn es hart auf hart kam, wenn es galt, den Unterschied zu machen, scheiterte das Bayer-Team immer auch an sich selbst und der eigenen Unfähigkeit, den letzten, entscheidenden Schritt zu gehen.
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Michael Reschke: "Quatsch vor dem Herrn"
Wohlfühloase lautete in dem Zusammenhang deshalb der immer wieder genutzte Begriff, wenn es Bayer 04 mal wieder verpasste, nach dem UEFA-Cup 1988 und dem DFB-Pokal 1993 einen großen Titel zu holen.
Auch wenn sich die Beteiligten durchaus gegen den Stempel wehren.
Wohlfühloase? "Das war ein Quatsch vor dem Herrn", sagt Michael Reschke ran. Er war 35 Jahre lang im Verein, der 66-Jährige hat bis 2014 all die Dramen hautnah erlebt, am Ende auch als Manager.
"Ach, die werden Vizemeister, weil die sich in so einer Wohlfühloase befinden Und dann sagen die sich: 'Deutscher Meister wollen wir natürlich nicht werden, weil wir uns alle so wohlfühlen.' Das war für mich immer ein albernes Klischee."
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Nowotny: Das fehlte Bayer früher
Trotzdem gab es natürlich gute Gründe dafür, dass keine Titel mehr gefeiert wurden.
Fehlendes Glück war es ganz sicher. Die Nerven auch. Zu starke Konkurrenz ebenfalls, es war nicht alles nur Pech und eigene Blödheit.
Aber da waren auch Dinge zwischen den Zeilen.
"Wir waren damals nicht so selbstbewusst oder frech genug, um zu sagen: 'Was wollt ihr eigentlich? Wir stehen zu Recht da oben und wir gewinnen das nächste Spiel und die Schale nehmen wir nachher auch mit nach Hause.'", sagt der frühere Nationalspieler Jens Nowotny bei ran.
Dieses Selbstverständnis sei nicht so ausgeprägt gewesen, betont Nowotny. "Bei uns hat man immer eher gesagt: 'Ach nee, lass' keine Story machen, es könnte ja noch was schiefgehen.‘ Dieser Mut, dieses letzte Quäntchen Überzeugung, sich mal hinzustellen und zu sagen, dass wir Deutscher Meister werden - auch intern - hat ein bisschen gefehlt."
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Bayer: Zu viel Zaudern, zu wenig Xhaka und Xabi
Zu viel Zaudern, zu wenig Xhaka. Beziehungsweise Xabi Alonso.
Denn es ist egal, mit wem man rund um den Klub spricht - der Spanier wird nach nur anderthalb Jahren regelrecht verehrt.
Die Menschen bei Bayer 04 wissen, dass der 42-Jährige ein Glücksfall ist, dass er Leverkusen wachgeküsst, dem Verein ein wenig Glamour, viel Glanz und noch mehr Gloria gebracht hat.
51 Pflichtspiele in Folge blieb Bayer 2023/24 ungeschlagen, stellte so einen neuen Europa-Rekord auf, walzte damit durch die Bundesliga, den DFB-Pokal und die Europa League.
Im dortigen Finale kassierte Leverkusen gegen Atalanta Bergamo die einzige Niederlage (0:3), so dass unter dem Strich das Double steht. Genauso viele Titel also wie in 44 Jahren Bundesliga vorher.
Diese Teams schafften die perfekte Saison
Alonso hat Leverkusen eine neue DNA verpasst
Doch es geht dabei mehr als nur den bloßen Erfolg.
Seit Alonso seinen Job im Oktober 2022 antrat, hat er den Verein auf links gedreht, ihn auf sehr eindringliche Art und Weise geprägt und ihm eine neue DNA verpasst. Und der Mannschaft auch.
Ein ganz neues Selbstverständnis, mit dem das Team durch eine historische Saison getragen wurde.
"Alle fühlen sich gut, jeder liebt den Coach. Seitdem er hier ist, hat er Leverkusen verändert", sagt Jeremie Frimpong. Und Robert Andrich betont: "Du merkst, er macht etwas mit dir."
Xhaka wiederum lobt: "Wenn man so eine Persönlichkeit wie ihn, der alles gewonnen hat, vor sich hat, muss man einfach Gas geben - für ihn“.
Interessant dabei: Vieles ist offenbar eine Gefühlssache. So richtig greifen und benennen können die Spieler den Zauber gar nicht. Dieses Erfolgsgeheimnis, den Schlüssel, den er ihnen in die Hand gegeben hat.
So bleibt die Triumphfahrt durch die Saison ein Stück weit ein Phänomen, ein bisschen mysteriös - was ohne Frage die Faszination um den Weg unter Alonso noch etwas erhöht.
Ab diesem Moment glaubte Alonso an die Meisterschaft
Bayer Leverkusen: Phänomen Xabi Alonso
"Ich habe schon einige Spieler gefragt, was ihn so besonders macht - die können es gar nicht so genau sagen", verriet Bundestrainer Julian Nagelsmann in der "ARD".
Was im Zusammenhang mit Alonso immer wieder betont wird, ist seine Wirkung nach außen. "Er hat eine gewisse Aura", sagt Ex-Nationalspieler Bastian Schweinsteiger. "Wenn du auf einem Niveau spielst, wie er das getan hat, glauben die Spieler noch ein bisschen mehr, was du sagst."
Und Nowotny betont, dass Alonso der Chef war, wenn er als Spieler auf dem Platz stand, "und jetzt ist er es wieder, und er hat es in sich drin".
Das habe er weitergegeben, so Nowotny: "Die Spieler hat er mitgenommen und die nehmen ihm alles ab, weil er es glaubwürdig herüberbringt, weil er bewiesen hat und immer noch beweisen kann, dass er kicken kann."
Ja, Alonso hat als Spieler alles gewonnen, was man gewinnen kann, er war Meister in Deutschland und Spanien, dazu Champions-League-Sieger, Welt- und Europameister.
Und mit seinen 42 Jahren steht er jeden Tag auf dem Trainingsplatz und kann immer noch überaus passabel mitkicken, haarscharf und punktegenau geschlagene Bälle spielen.
Bayer Leverkusen: Viele Zutaten für das Erfolgsrezept
Doch natürlich ist das nur ein Rädchen, das in viele andere greift.
Aura und der eigene Erfolg als Visitenkarte sind wichtige Erfolgsrezepte, andere Zutaten sind aber unabdingbar. "In dieser Saison hat alles perfekt zusammengepasst. Team, Trainerstab, ein tolles Team-Umfeld, Superfans und die hohe Stabilität im Klub haben sich gemeinsam zu diesem Erfolg getrieben", sagt Reschke.
Vor allem seinem Trainerteam vertraut Alonso blind, auf seine Mitarbeiter hält er große Stücke.
"Natürlich ist Xabi derjenige, der das alles verbindet und zu Höchstleistungen führt. Der Respekt, den er bei den Mitarbeitern im Klub, in seinem Trainerstab und beim Publikum genießt, spricht für sich", sagt Reschke.
Dies sei nur möglich, wenn man eine unglaubliche Empathie und hohe Wertschätzung besitze, so der Ex-Manager: "Xabi hat dafür gesorgt, dass alle davon überzeugt sind, dass Großes möglich ist."
Für Ex-Manager Reiner Calmund war eine Szene mit seinem Trainerteam sogar einer der Knackpunkte für den Erfolg.
"Dass er nach einem Spiel mal sein ganzes Team, die Assistenztrainer, die Mediziner, Betreuer etc. mit in die Kurve genommen hat. Das war für mich auch ein Zeichen, dass sich das Team hinter dem Team auch gewürdigt fühlt. So hat er alle abgeholt und mitgenommen", sagt Calmund bei ran.
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Weltmännisch, bodenständig, bescheiden
Und wie hat es Alonso geschafft, dem Klub nochmal ein ganz neues Selbstverständnis einzuhauchen?
Der Baske ist weltmännisch, dabei aber bodenständig und bescheiden. Sein Fußball-Sachverstand ist unbestritten, er kann ein Spiel lesen, hat eine natürliche Autorität, gepaart mit hoher Intelligenz.
Dazu ist er unglaublich detailversessen. Er verkörpert die Seriosität, die er seiner Mannschaft vorlebt und die er von ihr bei der Umsetzung auf dem Platz erwartet.
Er verbinde eben viel Außergewöhnliches, sagt Reschke. "Taktische Raffinesse, eine wohlwollend, feinfühlige Menschenführung, sowohl in Bezug auf seine Spieler, aber auch in der Art, wie er seinem Trainerstab und dem Teamumfeld Vertrauen und Respekt schenkt. Er war der wichtigste Baustein dieses Erfolges."
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Xabi Alonso: Der Dirigent eines Orchesters
Er sorgte dafür, dass die Mannschaft einen unbändigen Erfolgshunger und einen enormen Willen entwickelte, einen festen Glauben an das, was er vermittelte.
Alonso legt generell viel Wert auf Nähe zu seinen Spielern, auf Authentizität, ohne dabei zu kumpelig zu sein. Dass er in der Kabine auch mal laut werden kann, mag man fast kaum glauben, ist aber angeblich so.
Wichtig ist ihm auch die kontinuierliche Kommunikation, er schafft so ein enges Vertrauensverhältnis, das die Spieler mitnimmt und pusht.
Sie zahlen es mit Leistung zurück. Das Team hat eine für den Gegner erdrückende Siegermentalität, dazu echte Comeback-Qualitäten, was 15 Tore in der Nachspielzeit eindrucksvoll belegen.
Er war der ideale Dirigent dieses Orchesters, das mit einem enormen Selbstvertrauen, einem passenden Plan und einer dominierenden Mentalität ausgestattet war.
Leverkusen im Last-Minute-Wahnsinn!
Und das hat sich irgendwann auf den ganzen Verein übertragen. Das spröde Plastik-Image des Werksklubs konnte schon länger ein wenig Rock'n'Roll vertragen.
"Sie müssen an das glauben, was du ihnen sagst. Du musst sie füttern: Sie müssen das Gefühl bekommen, dass sie mit deinem Coaching besser werden. Sie müssen wissen, dass du da bist, um ihnen zu helfen - mit deiner Kenntnis, deiner Führung, deiner Motivation. An erster Stelle kommt die Menschenführung - erst danach kommen Fußballwissen und Taktik“, sagte Alonso in der "SZ" über seine Herangehensweise.
"Die Hauptaufgabe besteht darin, dass die Spieler dir folgen müssen", betonte er.
Und dass er sie mit einbezieht. Wie Xhaka.
"Er hat meine Arbeit viel einfacher gemacht. Ich hatte eine starke Verbindung mit ihm", sagte Alonso. Ohne Xhaka, so der Trainer, wäre der Erfolg "nicht möglich" gewesen.
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Und wie geht es jetzt weiter? Fällt die Mannschaft auseinander? Kommt der Titel-Blues? Oder wird das der Start in eine neue Ära?
Das wird Alonsos nächste Herausforderung sein: Diese Saison auf hohem Niveau zu bestätigen, Mannschaft und Verein nochmals weiterzuentwickeln.
"Bayer Leverkusen wird sich in den nächsten drei, vier Jahren für die Champions League qualifizieren und auch ein gewichtiges Wort im Kampf um die Meisterschaft mitsprechen", sagt Reschke, der aber die Vorstellung einer Ära, in der man laufend Deutscher Meister wird, als "eine überzogene Erwartungshaltung" bezeichnet.
Eigentlich ein sehr vernünftiger Ansatz. Seriös. So wie es Alonso gefallen würde.
Nur Granit Xhaka dürfte das vermutlich anders sehen.