Champions League
FC Bayern München - Schiri-Ärger, Verletzungspech, Aufstellungsfehler: Real-Spiel als Spiegelbild von Tuchels Zeit beim FCB
- Aktualisiert: 10.05.2024
- 08:46 Uhr
- Martin Volkmar
Das bittere Aus des FC Bayern in Madrid ist ein Spiegelbild von Thomas Tuchels wenig erfolgreicher Amtszeit: Viel Ärger, viele Verletzungen, viele falsche Entscheidungen.
Aus Madrid berichtet Martin Volkmar
Spät nach Mitternacht, als Thomas Tuchel etwas apathisch am Tisch der Bayern-Bosse saß, war sein innerer Vulkan wieder erloschen. Doch diese Phase der Abkühlung setzte erst ein, als der scheidende Trainer des FCB das Estadio Bernabeu verlassen hatte.
Denn am Ort einer der bittersten Niederlagen seiner Karriere hatte Tuchel sämtliche Emotionen rausgelassen, von Euphorie über Wut bis Trauer. Der Last-Minute-K.o. in der Champions League durch das 1:2 gegen Real Madrid war in vielen Bereichen ein Spiegelbild seiner Zeit in München.
Vor allem in der ablaufenden Frust-Saison ohne Titel war die kurze Tuchel-Ära geprägt von großem Verletzungspech, viel Ärger über fragwürdige Schiedsrichterentscheidungen und spielentscheidende Patzer seiner Mannschaft und auch immer wieder eigenen Fehlern bei der Auswahl seiner Spieler.
Entsprechend riesig war die Enttäuschung nach seiner letzten großen Partie für den deutschen Rekordmeister, den er nur rund 14 Monate betreuen durfte.
Das Wichtigste in Kürze
FC Bayern: Tuchel gleich mehrfach mit Tränen in den Augen
Gleich mehrfach hatte Tuchel nach der Partie Tränen in den Augen. Etwa, als er Real-Präsident Florentino Perez zum Abschied umarmte oder in den Interviews nach Ende des Dramas.
"Wir sind einfach sauer, wir haben alles da draußen gelassen", sagte der 50-Jährige mit feuchten Augen. "Es war ein richtiger Fight. Wir setzen den Punch und sind fast über die Ziellinie."
Doch nachdem Alphonso Davies mit seinem Traumtor (68.) das Tor zum großen Finale in Wembley weit aufgestoßen hatte, drehte der eingewechselte Joselu mit seinem Doppelpack (88., 90.+1) die Partie für die "Königlichen", die nun am 1. Juni in London statt der Bayern auf Borussia Dortmund treffen.
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FC Bayern: Tuchel bei zwei Aussetzern machtlos
Der Frust darüber war bei Tuchel auch deshalb so groß, weil er trotz 104-minütigen Power-Coachings an der Seitenlinie bei den zwei maßgeblichen Szenen machtlos war:
Beim Aussetzer des bis dahin überragenden Manuel Neuer, der zum 1:1 führte, und beim fälschlicherweise wegen Abseits von Schiedsrichter Szymon Marciniak aberkannten Tor zum 2:2 durch Matthijs de Ligt kurz vor dem Abpfiff.
Eine krasse Fehlentscheidung des zuvor guten Unparteiischen und seinem Linienrichter aus Polen, der die Bayern kollektiv empörte, aber vor allem Tuchel auf die Palme brachte. "Natürlich nehmen wir die Entschuldigung als Sportsmänner an", sagte er: "Aber es ist ein Halbfinale. Es ist nicht der Moment für Entschuldigungen, ehrlich nicht."
FC Bayern: Tuchel redet sich in Rage
Dann redete sich der Chefcoach in der Pressekonferenz richtig in Rage.
"Alle müssen ans Limit. Alle müssen leiden. Alle müssen fehlerfrei spielen. Da müssen halt die Schiedsrichter auf diesem Niveau das auch tun", sagte er mit fast überschlagender Stimme und haute bei jedem Satz mit der Hand aufs Podium vor ihm:
"Das hilft halt nicht, wenn du nachher Entschuldigung sagst. Wenn du nicht liefern kannst, hilft das nicht."
Erste Bayern-Saison ohne Titel seit 2012
Es half wirklich nichts, denn Tuchel wird nach dem geplatzten Traum von seinem zweiten Gewinn des Henkelpotts nach dem Sieg mit Chelsea 2021 den Klub als Verlierer verlassen, schließlich ist es die erste Saison seit zwölf Jahren ohne Titel.
Woran der Schwabe bekanntlich auch seinen Anteil hatte. Viele teuer eingekaufte Profis wie etwas der 50-Millionen-Verteidiger Minjae Kim, Dayout Upamecano oder der gegen Real komplett auf die Bank verbannte Ex-Nationalspieler Leon Goretzka wurden unter Tuchel nicht besser, sondern schlechter.
Tuchels manchmal nicht nachvollziehbaren Personalentscheidungen wie etwa beim vercoachten 0:3 gegen Meister Bayer Leverkusen oder dem sensationellen Pokal-Aus gegen Drittligist Saarbrücken konnte man auch gegen Real beobachten.
FC Bayern: Sane, Mazraoui und Kimmich mit rabenschwarzem Abend
Zwar war die Startelf einigermaßen nachvollziehbar, wobei man sich bei einigen Akteuren aber schnell fragen konnte, ob es im Training zuvor gar keine Anzeichen für deren fehlende Körperspannung gab.
Leroy Sane und Noussair Mazraoui von Beginn an sowie in der zweiten Halbzeit auch der von Vinicius Junior schwindelig gespielte Joshua Kimmich erwischten einen rabenschwarzen Abend.
Tuchel reagierte aber, ebenfalls nicht zum ersten Mal, zunächst gar nicht, dann spät und nach Meinung vieler Beobachter obendrein falsch.
FC Bayern: Hätte mehr Erfahrung im Bernabeu geholfen?
So hätte es gute Argumente für eine frühe Einwechslung der beiden Routiniers Thomas Müller und Goretzka gegeben, um mehr Ruhe und Erfahrung in die von der hitzigen Atmosphäre teilweise ein wenig eingeschüchtert wirkende Mannschaft zu bringen.
Oder man hätte angesichts des dramatischen Real-Übergewichts über die von Vinicius Junior bespielte linke Madrider Seite überlegen können, hinter einem etwas vorrückenden Kimmich zur Absicherung den gelernten Rechtsverteidiger Mazraoui die Seite wechseln zu lassen.
FC Bayern: Hargreaves attackiert Tuchel wegen Kane-Auswechslung
Auch tauschte Tuchel am Ende die komplette Offensive gegen meist defensivere Spieler aus, was vor allem im Fall von Torjäger Harry Kane für Unverständnis sorgte.
"Das ist einer der größten Fehler, die man in der Welt des Fußballs machen kann", sagte der frühere FCB-Star Owen Hargreaves bei "TNT Sports": "Man nimmt einen Spieler raus, der 44 Tore geschossen hat und der so ziemlich der beständigste Spieler überhaupt ist."
Allerdings sah sich Tuchel laut eigener Aussage gezwungen, den Kapitän der englischen Nationalmannschaft vom Feld zu holen. "Er hat mit Rückenschmerzen gespielt und es ging nicht mehr, der Rücken war zu", sagte er. "Die vorderen Vier haben alle gesagt, dass sie rausmüssen."
FC Bayern: Verletzungsmisere geht auch in Madrid weiter
Bestätigt wurde diese Aussage von Kane zwar nicht, aber unabhängig davon, ob der 30-Jährige sich in dieser wichtigen Phase nicht hätte durchbeißen können, ging die unfassbare Verletzungsmisere auch in Madrid weiter.
Serge Gnabry, erst kürzlich von einer Muskelverletzung zurückgekehrt, musste schon nach weniger als einer halben Stunde runter. Jamal Musiala spielt laut eigener Aussage seit Wochen unter Schmerzmitteln, ebenso wie Sane.
Dadurch konnten die schnellsten Bayern-Spieler ihre Stärken bei Kontern nicht wie zuletzt gegen Arsenal ausspielen, zumal in Flügelflitzer Kingsley Coman auch noch der Siegtorschütze des letzten Champions-League-Erfolgs 2020 seit Wochen zuschauen muss.
FC Bayern: Anderes Ergebnis mit vollständigem Kader
Mit einem vollständigen Kader, vor allem in der Offensive, wäre die Partie anders ausgegangen, war man sich bei den Bayern sicher.
Ob Tuchels Trainingsmethoden einen Anteil an den vielen Ausfällen haben könnten, wird man nie seriös herausfinden. Umgekehrt wurde ihm zuletzt ja sogar vorgeworfen, sich zu detailliert an die Vorgaben der Mediziner zu halten.
Entsprechend fatalistisch geht der Trainer seit Monaten mit der Situation um. "Ein bisschen zu viele Verletzungen, Auswechslungen, Krämpfe", sagte er auch mit Blick auf Aleksandars Pavlovic Krampfanfall in der Schlussphase, weswegen sein Team beim 1:1 in Unterzahl war.
Tuchel: Fehlende Kadertiefe macht den Unterschied gegen Real
Aber für Tuchel machte auch die fehlende Kadertiefe gerade im Vergleich zu Real am Ende den Unterschied: "Wir waren die ganze Saison nie in der Lage, in einem Spiel so zu wechseln, wie wir es wollten, weil wir immer auf Verletzungen reagieren mussten. Das ist zu viel."
Vermutlich war er auch deshalb so am Boden zerstört, weil seine vorherige Erfolgsserie zum ungünstigsten Zeitpunkt riss. Denn vor der Niederlage gegen Real hatte er keines seiner 14 Halbfinals in Pokalwettbewerben verloren und insgesamt zwölf Siege eingefahren.
Doch statt seine Amtszeit noch um zwei Wochen bis zum Champions-League-Endspiel zu verlängern, wird sie nun mit zwei trostlosen "Abschiedsspielen" in der Bundesliga am Sonntag gegen Wolfsburg sowie am letzten Spieltag (18. Mai) in Hoffenheim enden.
Darüber, sagte Tuchel nach dem Schluss in Madrid mit leerem Blick, habe er sich noch keine Gedanken gemacht.