Julian Nagelsmann hat dem DFB offenbar sein Ja-Wort gegeben und übernimmt die Nationalmannschaft bis zur Heim-EM im kommenden Sommer. Ein Wunsch-Szenario, das für beide Seiten trotzdem nicht ungefährlich ist. Ein Kommentar.
Von Tobias Hlusiak
Neun Tage nach der Entlassung von Hansi Flick hat Deutschland allem Anschein nach einen neuen Bundestrainer.
Und so wie es aussieht, bekommt der DFB genau den, den er wollte.
Auch wenn noch letzte Details zu klären sind und die Gremien zustimmen müssen: Julian Nagelsmann soll das am Boden liegende Team aufrichten und zu einer erfolgreichen Heim-EM führen.
So jedenfalls ist der Plan.
Ein ambitionierter, wie es scheint, denn für beide Seiten hängt eine Menge am Gelingen dieses Abenteuers.
Nagelsmann war im März diesen Jahres - für ihn völlig überraschend - beim FC Bayern entlassen worden. Nach eineinhalb Jahren Amtszeit.
Der 36-Jährige hatte einen großen Vorsprung auf den BVB verspielt und soll nicht mehr den besten Draht zur eigenen Mannschaft gehabt haben.
Auf viele dieser Spieler trifft er nun erneut. Die Nationalmannschaft verfügt über einen großen Bayern-Block. Noch dazu herrscht nach den Resultaten der vergangenen Monate und Jahre nicht die beste Stimmung, wie in der Amazon-Doku für jeden zu bestaunen war.
Es ist also längst nicht klar, dass der - immer noch - junge Trainer die Kabine beim DFB gewinnt, nachdem er sie beim FCB zumindest in Teilen verlor.
Diese Rückendeckung dürfte für ihn aber unabdingbar sein. Nagelsmann muss in Windeseile das Team hinter sich versammeln, um bis zum Turnier ein Wir-Gefühl zu erzeugen.
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DFB: Die Chronologie des Niedergangs der Nationalmannschaft
DFB-Elf in der Krise Neun Monate vor der Heim-EM 2024 steckt die DFB-Elf tief in der Krise. Das 1:4-Debakel gegen Japan ist der vorläufige Höhepunkt des Niedergangs eines Teams, das die Negativ-Entwicklung selbst offenbar nicht wahrhaben will. Ein Blick ins Geschichtsbuch verdeutlich allerdings, dass der Abstieg schon vor vielen Jahren begonnen hat.
EM 2016: Löw hofft auf Double Als amtierender Weltmeister rechnete sich das DFB-Team mit Jogi Löw auch bei der EM 2016 Titelchancen aus. Auch ohne Philipp Lahm oder Miroslav Klose, die längst ihre Karriere beendet hatten. Bastian Schweinsteiger war zwar noch dabei, hatte seinen Zenit aber auch schon überschritten.
Deutschland bei EM 2016 Mitfavorit Im Vorfeld der EM lief es nicht rund Das 0:2 gegen Frankreich in Paris, während dem Terroristen 130 Menschen töteten, hinterließ mental Spuren. Zudem gab es Niederlagen gegen England und die Slowakei. Der erste Sieg gegen Italien (4:1) seit 1995 verklärte das Bild. Deutschland galt bei der EM als Mitfavorit auf den Titel, Bundestrainer Löw als unantastbar.
Kimmichs Stern geht auf Das Turnier verlief glanzlos. Arbeitssiege gegen die Ukraine (2:0) und Nordirland (1:0) , ein torloses Remis gegen Polen und dann ein 3:0-Pflichtsieg im Achtelfinale gegen die Slowakei. Einziges Highlight: Bei der EM ging der Stern des 21-jährigen Joshua Kimmich auf – als Rechtsverteidiger.
2016: Schweinsteiger Pechvogel beim EM-Aus Als die DFB-Elf im Viertelfinale dann erstmals Italien bei einem großen Turnier bezwang (6:5 i. E. ), war die Euphorie groß. Die Ernüchterung kurz darauf noch größer. Mit 0:2 schied der Weltmeister sang- und klanglos im Halbfinale gegen Frankreich aus. Ausgerechnet WM-Held Schweinsteiger leitete die Pleite mit einem verursachten Elfer ein.
Löw bleibt nach EM 2016 im Amt Trotzdem: Halbfinale ist ein Ergebnis, das sich sehen lassen kann. Zwar gab es langsam erste Stimmen, die über eine Ablösung Löws spekulierten. Der Bundestrainer aber wollte die Scharte wieder auswetzen und versprach Wiedergutmachung bei der WM 2018. Fußball-Deutschland vertraute. Zunächst zu Recht.
Mega-Serie bei WM-Quali und Sieg im Confed Cup 2017 gewann eine deutsche B-Elf den Confed Cup, die U21 wurde Europameister. Die erste Garde überzeugte bei der Qualifikation für die WM 2018 mit einer weißen Weste. Zehn Spiele, zehn Siege, 43:4 Tore. Insgesamt blieb die Nationalmannschaft 22 Spiele in Serie ungeschlagen. Doch die Zahlen blendeten.
Wake-Up-Call gegen Österreich vor WM 2018 Ende 2017 kippte das Momentum. Die Leistungen wurden Stück für Stück schlechter. Gegen Topteams wie England (0:0), Frankreich (2:2) und Spanien (1:1) ging nicht mehr als ein Unentschieden. Anfang 2018 beendete Brasilien den deutschen Siegeszug (0:1). Den ersten Wake-up-Call gab’s aber erst kurz vor dem Turnier, als Österreich die deutsche Elf erstmals seit 32 Jahren besiegte (1:2).
Erste Risse Abseits des Platzes gab es erste Risse zwischen der Mannschaft und den Fans. Der Vorwurf: Der DFB würde sich immer mehr von den Fans entfremden, Marketing-Aktionen waren wichtiger als tatsächliche Fan-Nähe. Hinzu kam Erdogan-Gate.
Erdogan-Gate vor WM 2018 Kurz vor der WM posierten Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Fans forderten den Rauswurf beider Spieler, Löw entschied sich dagegen. Während sich Gündogan später von der Aktion distanzierte, führte Özils Verhalten letztlich zu seinem Rücktritt aus der Nationalmannschaft.
WM: Quartier-Ärger beim DFB Zudem gab es intern Querelen um das WM-Quartier. Während Löw lieber in der Sonne von Sotschi trainieren wollte, wählte Teammanager Oliver Bierhoff mit Watutinki eine Unterkunft mit "Sportschulen-Charme" eine Fahrstunde von Moskau entfernt. Weil sich einige Spieler die Nächte mit Playstation-Zocken um die Ohren schlugen, musste der DFB nachts sogar das W-LAN abstellen.
Erstes Vorrunden-Aus bei einer WM Prompt ging auch erstmals seit 1982 ein Auftaktspiel einer WM oder EM verloren. 0:1 gegen Mexiko. Toni Kroos‘ Last-Minute-Freistoßtor zum 2:1 gegen Schweden in der Nachspielzeit schürte zwar wieder Hoffnung, doch mit einer kampflosen 0:2-Niederlage gegen Südkorea im dritten Gruppenspiel schied Deutschland erstmals überhaupt bei einer WM in der Vorunde aus.
2018: Negative Bilanz für DFB-Team "Löw raus"-Rufe machten die Runde. Doch entgegen der Stimmung im Land hielt der DFB am Bundestrainer fest. So wollte sich Löw nicht verabschieden. Doch es wurde nicht besser. Mit schwachen Leistungen in der neu eingeführten Nations League beendete die Nationalmannschaft erstmals seit 1985 ein Jahr mit einer negativen Bilanz.
2020: 0:6-Blamage gegen Spanien Löw plante den Umbruch, musterte Mats Hummels, Thomas Müller und Jerome Boateng aus, um jüngeren Spielern im Hinblick auf die EM 2020 eine Chance zu geben. Nachdem die EM wegen der Pandemie um ein Jahr verschoben wurde, blieb nur die Nations League als Gradmesser. Am 17. November 2020 setzte es ein historisches 0:6 gegen Spanien. Der vorübergehende Tiefpunkt.
Gescheiterter Umbruch Im Frühjahr holte Löw reumütig Müller und Hummels zurück. Es war notwendig aber auch ein Eingeständnis, dass der Umbruch zunächst gescheitert war. Sowohl die EM-Vorbereitung als auch die WM-Quali verliefen durchwachsen, so dass das Team angeschlagen ins Turnier ging. Vielleicht würde ja doch alles gutgehen? Ging es bekanntlich nicht.
2021: Aus für Bundestrainer Löw Ausgerechnet Rückkehrer Hummels fabrizierte beim 0:1 gegen Frankreich ein Eigentor. Das 4:2 gegen Portugal war nur zwei portugiesischen Eigentoren zu verdanken, das 2:2 gegen Ungarn eine Zitterpartie. Das Aus im Achtelfinale beim 0:2 gegen England folgerichtig. Löw hatte nun ein Einsehen. Das 198. Spiel als Bundestrainer sollte sein letztes sein. Auch Kroos trat zurück.
2021: Flick übernimmt Hansi Flick, bis 2014 Jogis Co-Trainer, übernahm im September 2021 mit breiter Brust. Schließlich hatte er mit dem FC Bayern München gerade das Sextuple gewonnen. Fußball-Deutschland war wieder zuversichtlich. Es blieb ein gutes Jahr bis zur WM 2022 in Katar, um den Karren wieder flott zu bekommen.
2022: Prestige-Erfolg gegen Italien Flick startete mit einer Acht-Spiele-Siegesserie gegen schwächere Gegner, schlug sich auch mit Unentschieden gegen die Niederlande, Italien und England (jeweils 1:1) tapfer. Das 5:2 gegen Italien in der Nations League im Sommer 2022 blieb jedoch der Höhepunkt seiner Amtszeit.
Vorrunden-Aus in Katar Danach ging es steil bergab. Schon die unmittelbare WM-Vorbereitung verlief durchwachsen mit der ersten Niederlage für Flick als Bundestrainer gegen Ungarn (0:1). Es folgte das desolate Vorrunden-Aus in Katar, bei dem sich die Nationalmannschaft mit der Menschenrechtslage im Gastgeberland eher für Politik als für den rollenden Ball und den nächsten Zweikampf zu interessieren schien.
Flick entlassen Seitdem befand sich das Flick-Team im freien Fall. Verunsichert, uninspiriert, erfolglos. Mit zuletzt drei Pleiten in Folge gegen Polen (0:1), Kolumbien (0:2) und Japan. Am Sonntag zog der DFB daher Konsequenzen und entließ den glücklosen Bundestrainer. Flick verabschiedet sich damit mit zwölf Siegen aus 25 Spielen.
Bisher nur als Vereinscoach aktiv
Dass er dafür nicht jeden Tag mit den Spielern arbeiten kann, ist für den neuen Bundestrainer eine Umstellung. Bislang war er nur als Vereinscoach aktiv. Nun sieht er seine Mannschaft nur alle paar Wochen.
Im laufenden Jahr darf er sie nur noch zwei Mal - für insgesamt vier Spiele - zusammenziehen.
Sein Debüt gibt Nagelsmann zu allem Überfluss auf der USA-Reise, die nicht nur in Teilen der Öffentlichkeit kritisch besprochen wird. Zuletzt nannte auch Nationalspieler Niklas Süle den Zeitpunkt der Spiele gegen die USA und Mexiko "nicht glücklich gewählt".
Ob die Spieler Borussia Dortmunds im zweiten Spiel mit voller Kraft dabei sein sollen/können, wird im Hintergrund derweil mit erhitzten Gemütern erörtert. Immerhin muss der BVB knapp einen Tag nach Rückkehr der Mannschaft in der Bundesliga ran.
Nagelsmann Nationaltrainer? Babbel glaubt an falschen Zeitpunkt
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Nagelsmann: Große Zweifel der Experten
Der zwölfte Bundestrainer in der Geschichte des DFB wird also auch als Moderator alle Hände voll zu tun haben, während er gegen starken Gegenwind ankämpft.
Nicht wenige Experten hatten schon während des Auswahlprozesses an Nagelsmanns Eignung für den Job gezweifelt.
Bastian Schweinsteiger, Michael Ballack, Stefan Effenberg, Dietmar Hamann, Markus Babbel: Alle hatten andere Wunschlösungen, erwarteten eine "harte Hand" für die Mannschaft. Die Namen Louis van Gaal und Felix Magath fielen nicht selten.
Uli Hoeneß meinte gar, der DFB könne nun auch "den Kaiser von China holen, auch der wird es schwer haben!" Der neue Trainer solle in jedem Fall "den Laptop zuhause lassen und erstmal über die Emotion kommen".
Nagelsmann: Schaden bei frühem EM-Aus
Nagelsmann wird seine eigenen Vorstellungen haben, um den Job für ihn und die Mannschaft zu einem Erfolg zu machen. Denn auch für den 36-Jährigen hängt persönlich viel daran.
Zuletzt tauchte sein Name nämlich immer dann auf, wenn ein absoluter Top-Klub einen Trainer suchte. Mit Paris Saint-Germain und dem FC Chelsea wurde nach Nagelsmanns Demission beim FC Bayern sogar gesprochen und verhandelt.
Zu einem Engagement kam es aber nicht. Trotzdem will Nagelsmann auf lange Sicht zurück in den Klubfußball. Eine erfolgreiche EM würde ihm dafür einen enormen Werbeschub verschaffen. Aber auch das Gegenteil ist möglich.
Scheitert die DFB-Auswahl auch bei der Heim-EM so früh wie bei den letzten Turnieren, würde auch das Image des Top-Trainers einen empfindlichen Kratzer bekommen.
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Nagelsmann nicht der Jüngste: So alt waren die Nationaltrainer beim DFB-Debüt
Nagelsmann nicht der Jüngste: So alt waren die DFB-Trainer beim Debüt Dass Julian Nagelsmann die Nachfolge von Hansi Flick als Bundestrainer antritt, gilt als gesichert. Der ehemalige Bayern-Trainer übernimmt das DFB-Team bis zur EM. Er wird aber nicht der jüngste Bundestrainer der Geschichte sein. ran zeigt, wie alt die Bundestrainer bei ihrem jeweiligen Debüt waren. (Stand: 19. September 2023)
Otto Nerz Alter beim Debüt: 34 Jahre Debüt als Bundestrainer: Niederlande - Deutschland 2:3 (31. Oktober 1926)
Auch der DFB geht ein Wagnis ein
Und der Verband?
Auch wenn der Deal mit Nagelsmann nach außen als Erfolg und schnelles Umsetzen der Wunschlösung verkauft werden wird, waren die Alternativen nicht zwingend reich gesät.
Einem so jungen Trainer wie Nagelsmann die Führung der Mannschaft für das erste Heimturnier seit 18 Jahren anzuvertrauen, ist risikoreich. Andererseits zeugt dieser Schritt von großem Vertrauen.