Tour de France
Tour de France - Jens Voigt exklusiv über Florian Lipowitz: "Kann irgendwann den ganz großen Wurf landen"
- Veröffentlicht: 21.07.2025
- 22:55 Uhr
- Chris Lugert
Florian Lipowitz ist der Shootingstar der Tour de France 2025, der 24-Jährige nimmt Kurs Richtung Podium. ran hat mit Ex-Profi Jens Voigt über den Deutschen gesprochen.
Das Interview führte Chris Lugert
Florian Lipowitz ist der neue Hoffnungsträger im deutschen Radsport. Der 24-Jährige geht bei seiner allerersten Tour de France als Gesamtdritter und Träger des Weißen Trikots für den besten Jungprofi in die finale Woche.
Damit hat Lipowitz gute Chancen, als erster Deutscher seit Andreas Klöden vor 19 Jahren in Paris auf dem Podium zu stehen. Doch mindestens drei schwere Bergetappen muss der Fahrer vom Team Red Bull-Bora-Hansgrohe auf dem Weg dorthin noch meistern.
Einer, der die Strapazen und Besonderheiten der Tour de France wie kaum ein zweiter versteht, ist Jens Voigt. Der 53-Jährige nahm von 1998 bis 2014 ununterbrochen an der Frankreich-Rundfahrt teil und feierte zwei Etappensiege. Inzwischen begleitet er die Tour als TV-Experte für "Eurosport".
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ran hat mit dem zweimaligen Gesamtsieger der Deutschland Tour über den kometenhaften Aufstieg von Lipowitz gesprochen. Außerdem erklärt Voigt, wo der Deutsche noch kleine Schwächen hat und was er ihm für die finale Tourwoche rät.
ran: Herr Voigt, die Tour machte am Montag Pause, der letzte Ruhetag stand auf dem Programm. Aus Ihrer jahrelangen Erfahrung: Wie läuft ein solcher Ruhetag ab?
Voigt: Was alle eint, ist das Ausschlafen. Von 9:00 Uhr bis 10:00 Uhr gibt es Frühstück, danach ein bisschen Zeit mit der Familie und ab 11:00 Uhr fährt man ein bisschen rum, um zu trainieren. Aber einige Fahrer sind einfach müde und wenn du den nächsten Tag nichts gewinnen kannst, wenn du keine wichtige Arbeit erledigen musst, dann bleibst du manchmal einfach im Bett liegen und sagst: Mein Körper braucht Ruhe, mein Kopf braucht Ruhe. Ich will das Fahrrad nicht sehen, ich will keine Leute sehen. Ich will nicht in die Öffentlichkeit. Ich brauche einfach einen Tag für mich allein. Und dann bleiben sie einfach den ganzen Tag im Hotel und machen wirklich gar keinen Sport.
Die Klassementfahrer haben diesen Luxus nicht. Die müssen fahren und müssen leider auch ein bisschen schwitzen, ein bisschen arbeiten, damit der Körper nicht in einen Ruhemodus verfällt. Denn es ist so schwer, den Körper dann wieder aufzuwecken, wenn erst einmal das Signal gegeben hat, dass er in den Ruhemodus geht. Deswegen fahren die vormittags tatsächlich zwei oder sogar drei Stunden, vielleicht auch hinter dem Auto im Windschatten, damit die Muskeln, der Körper und der Kreislauf ein bisschen arbeiten.
Voigt über Lipowitz: "Keinerlei Anzeichen von Ermüdung"
ran: Florian Lipowitz verbrachte diesen Ruhetag auf Platz drei der Gesamtwertung und im Weißen Trikot, er ist der Shootingstar im Peloton. Hätten Sie mit so einer Leistung bei seiner ersten Tour gerechnet?
Voigt: Also bei ihm ging es die letzten zwei Jahre stetig bergauf. Er ist bei Paris-Nizza ein starkes Rennen gefahren, bei der Dauphine, einem der letzten großen Vorbereitungsrennen für die Tour, hat er Remco Evenepoel auf Platz vier verdrängt. Und tatsächlich habe ich die Gesamtwertung so getippt, wie sie jetzt ist. Also Remco nicht in den Top-3, sondern Tadej Pogacar vor Jonas Vingegaard und Florian auf Platz drei.
ran: Dabei war die Tour ja gar nicht das große Ziel für Lipowitz …
Voigt: Offiziell wurde die Dauphine als Jahreshöhepunkt deklariert, er ist danach aber noch einmal ins Höhentrainingslager gegangen. Zwischen dem Ende der Dauphine und der letzten Tourwoche liegen gut fünf Wochen. Das ist schon eine lange Zeit, um die Topform zu halten. Das ist der einzige Punkt, bei dem ich sage, dass womöglich noch eine Schwierigkeit kommen könnte. Bislang zeigt er aber keinerlei Anzeichen von Ermüdung.
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ran: Eigentlich war Lipowitz bei der Tour als Helfer für Primoz Roglic eingeplant, jetzt liegt er in der Gesamtwertung gut zweieinhalb Minuten vor seinem nominellen Kapitän. Wie herausfordernd ist es für einen Fahrer, plötzlich aus dem Schatten ins Rampenlicht zu treten?
Voigt: Florian scheint ja ein ruhiger, bescheidener, bodenständiger Mensch zu sein. Die Gefahr, dass er abhebt, besteht bei ihm, glaube ich, nicht. Außerdem hat er ja auch eine starke und erfahrene Mannschaft um sich herum. Mit Primoz hat er einen unglaublich starken Partner an seiner Seite. Das hilft enorm, der eigentlich bis auf den letzten Kilometer bei Florian bleiben kann. Das ist der große Vorteil, den Red Bull-Bora-Hansgrohe hat, dass sie wirklich die einzige Mannschaft mit zwei Klassementfahrern sind.
Voigt rät Lipowitz: Kein Angriff mehr nach vorne
ran: Aber kann es nicht auch ein Nachteil sein, eine Doppelspitze zu haben, wenn die Hierarchie nicht klar vorgegeben ist? Nicht wenige glauben, Lipowitz sei auf der 12. Etappe nach Hautacam zu lange von seinem Team zurückgehalten worden …
Voigt: Das ist ein klassisches "Jein", also ja und nein. Die Toursieger der vergangenen fünf Jahre waren Pogacar und Vingegaard. Und bei denen war völlig klar: Die haben eine Ein-Leader-Strategie. Die wollen gewinnen, die haben einen Kapitän, weil sie an den Kapitän glauben. Wenn man einen Kapitän hat, gibt es keinerlei Zerwürfnis, Zerstreuung oder Ablenkung. Wenn du aber um das Podium oder Platz vier, fünf und sechs fährst, dann kann man zwei Kapitäne mitnehmen und hoffen, dass einer einfach den goldenen Tag erwischt und tatsächlich die Etappe gewinnt oder das Trikot übernimmt.
Zwei Kapitäne macht man meist dann, wenn man nicht sicher ist, dass man auch gewinnen kann. Allerdings hatte Pogacars Team UAE auch noch Joao Almeida dabei, der frisch die Tour de Suisse gewonnen hat. Der wäre jetzt vermutlich auch Vierter, Fünfter oder Sechster gewesen, wenn er nicht hätte aussteigen müssen.
ran: In der letzten Tourwoche geht es Richtung Alpen. Es stehen noch drei schwierige Bergetappen an, schon am Dienstag wartet der Schlussanstieg zum Mont Ventoux. Kommt Lipowitz das Profil der kommenden Tage entgegen? Und welche Strategie würden Sie ihm raten?
Voigt: Das Profil kommt dem entgegen, der die meisten Reserven übrig hat, nicht unbedingt dem Besten. Es geht jetzt darum, wer die strapaziösen zwei Wochen bisher am besten überstanden hat. Florian war sehr stark und an den vorigen Tagen auch einer der wenigen, die tatsächlich probiert haben, am Hinterrad von Jonas mitzufahren. Das heißt, dass er ja nicht zufällig Dritter ist. Er ist derzeit definitiv der drittstärkste Bergfahrer. Er ist mindestens so gut oder sogar besser als die anderen, die in der Gesamtwertung hinter ihm liegen. Aber er ist nicht ganz so gut wie Jonas und nicht ganz so stark wie Pogacar. Das ist aber auch völlig normal, denn es ist seine erste Tour.
Es wäre jetzt vermessen zu sagen: "Ich greife nochmal Pogacar an." Nein, nein – bleib realistisch. Dritter bei der Tour, das ist viel mehr, als man bei der ersten Teilnahme erwarten konnte. Und dazu das Weiße Trikot. Er sollte jetzt nach hinten schauen, nach vorne kann er auch nächstes Jahr schauen. Sichere das Podium ab.
Voigt traut Lipowitz den Tour-Sieg zu
ran: Lipowitz gilt bereits als kommender deutscher Radsportstar. Ähnliches sagte man aber auch über Emanuel Buchmann, der nach seinem vierten Platz bei der Tour 2019 nie wieder so weit vorne mitfahren konnte. Worauf kommt es an, damit Lipowitz tatsächlich dauerhaft in die Weltelite vorstoßen und um Gesamtsiege bei den großen Rundfahrten mitfahren kann?
Voigt: Mit dem, was er bisher geleistet hat, kann er sehr zufrieden sein. Er hat in der Vorbereitung ja offensichtlich nicht allzu viel falsch gemacht. Sei es Training, Ernährung, Höhentraining, Materialauswahl, Zeit im Windtunnel, um das Zeitfahren zu verbessern. Er soll einfach so weitermachen wie bisher, denn ich glaube, er hat sein körperliches Limit noch nicht erreicht. Es sind nur Kleinigkeiten, am ehesten vielleicht das Zeitfahren. Idealerweise fährt er am Berg mit Pogacar mit, ist aber im Zeitfahren schneller. Und auf Evenepoel, der ja Weltmeister und Olympiasieger im Zeitfahren ist, verliert er hier etwas, den besiegt er dafür am Berg. In der Summe der Fähigkeiten kann er dann tatsächlich irgendwann mal den ganz großen Wurf landen. Aber das ist Zukunftsmusik.
ran: Immer wieder gab es Berichte, dass Red Bull-Bora-Hansgrohe an Remco Evenepoel interessiert ist. Wäre es für ein deutsches Team nicht ratsam, ein deutsches Talent wie Lipowitz langfristig zum Star und Kapitän aufzubauen?
Voigt: Das große Transferkarussell begann früher immer rund um die Tour, jetzt ist es deutlich eher. Die Gespräche beginnen schon im Frühling rund um die Frühjahrsklassiker. Die offizielle Verkündung darf aber immer erst im August erfolgen, damit es keine Unruhe gibt. Das heißt, es ist sehr wahrscheinlich, dass Remco schon weiß, wo er nächstes Jahr ist. Vielleicht kann Red Bull-Bora-Hansgrohe jetzt auch gar nicht mehr sagen: "Wir brauchen dich nicht, wir haben den Florian", weil Remco schon unterschrieben hat.
Wechselt Evenepoel ins Lipowitz-Team? "Keine einfache Situation"
ran: Was würde eine Verpflichtung von Evenepoel für Lipowitz bedeuten mit Blick auf seinen Stellenwert bei Red Bull-Bora-Hansgrohe?
Voigt: Für Florian wäre das natürlich keine einfache Situation. Gerade erst hat er sich am starken Kapitän Roglic hochgearbeitet und dann wird einer geholt, der in der Rangordnung vielleicht über ihm steht. Aber Konkurrenz belebt das Geschäft, und Remco als Olympiasieger würde jede Mannschaft besser und stärker machen. Und gerade für die großen Eintagesrennen wäre Remco eine enorme Verstärkung, denn da war das Team nicht so erfolgreich, wie sie sein wollen. Roglic mit dem Sieg bei der Katalonien-Rundfahrt und Florian bei Paris-Nizza haben die Bilanz etwas gerettet. Vielleicht wollen sie wirklich einen starken Fahrer für die Eintagesrennen holen. Außerdem ist Florian noch jung, der muss nicht alle drei großen Landesrundfahrten machen. Vielleicht probiert er nächstes Jahr auch erst einmal, die Vuelta oder den Giro zu gewinnen.
ran: An der Spitze der Tour de France zieht Pogacar derzeit einsam seine Kreise. Vorausgesetzt, der Slowene bleibt sturzfrei: Kann Vingegaard ihm in der Schlusswoche überhaupt noch einmal gefährlich werden?
Voigt: Nein, das glaube ich nicht, so langweilig das auch klingen mag. Da müsste schon etwas Dramatisches oder Schreckliches passieren, damit sich da noch etwas ändert.
ran: Die Dominanz von Pogacar erinnert einige Fans an dunkle Doping-Zeiten des Radsports. Können Sie verstehen, dass auch so viele Jahre danach immer noch Skepsis und Misstrauen vorherrschen?
Voigt: Ich persönlich habe da kein Misstrauen. Ich denke, die Jungs von heute sind einfach vernünftig. Die sind anders groß geworden, die haben diesen Lance-Armstrong-Skandal miterlebt, die wollen das nicht, die brauchen das nicht. Ja, er fährt sehr gut, aber wo will man denn die Grenze ziehen? Wer ist nicht verdächtig? Platz 18, Platz 55? Es ist immer so, dass diese besonderen Talente doppelt angeschaut werden. Also ich sehe da kein Problem, ich glaube an ihn. Aber natürlich weiß ich um die Geschichte unseres Sports und ich weiß auch um die dunkleren Zeiten. Da verstehe ich auch die Leute, die sagen: "Bitte nicht schon wieder!"
Voigt sieht "goldene Ära" des Radsports
ran: Rein sportlich befindet sich der Radsport derzeit in einer starken Phase, besonders aufgrund der Altersstruktur der Topfahrer. Vingegaard ist 28 Jahre alt, Pogacar ist 26, Evenepoel 25, Lipowitz sogar erst 24. Sie alle kämpfen um die großen Titel. Erleben wir gerade eine goldene Ära des Radsports?
Voigt: Das glaube ich tatsächlich. Es gibt ja auch andere Superstars wie Wout van Aert oder Mathieu van der Poel, die bieten einfach großartigen Sport. Es ist einfach eine Freude, dabei zuzuschauen und es ist eine Freude, es kommentieren zu dürfen. Wir leben wirklich in dem wunderschönen, goldenen Zeitalter des Radsports, da stimme ich zu. Ich will wirklich auch diese Worte benutzen, eine goldene Ära unseres Sports. Der Sport ist spektakulär, was die Jungs anbieten, und es macht einfach Spaß, dort zuzuschauen.
ran: Kann jemand wie Lipowitz vor diesem Hintergrund noch einmal für einen zusätzlichen Radsport-Boom in Deutschland sorgen?
Voigt: Ich hoffe doch sehr. Das gilt für alle Sportarten: Deutsche Erfolge helfen immer, damit der Sport weiterkommt. Aber dafür muss man auch das Ehrenamt viel mehr wertschätzen. Leute, die es sich nach der Arbeit noch mal ans Bein binden und sagen: "Ja, ich trainere da noch ein paar Kinder." Das ist enorm wichtig, und das müsste viel mehr auch wertgeschätzt werden, auch in der Politik und in den Medien viel höher dargestellt werden. Um den Weltstar zu produzieren, braucht es erst einmal einen Haufen Kinder, die mit 10 Jahren ganz unten anfangen und sich hocharbeiten wollen.
ran: Abschließend Ihre Prognose: Schafft Lipowitz in diesem Jahr als erster Deutscher seit Andreas Klöden 2006 den Sprung aufs Podium der Tour?
Voigt: Ja, er hält den dritten Platz und behält auch das Weiße Trikot.