Handball-EM 2024
Andreas Wolff spielt für Deutschland bei der Handball-EM 2024 groß auf: Der geläuterte Hitzkopf
- Aktualisiert: 14.01.2024
- 11:17 Uhr
- Jonas Rütten
Das Weltrekordspiel zum EM-Auftakt war sein Spiel: Andreas Wolff war der deutsche Sieggarant gegen die Schweiz. Dass ihm erst vor ein paar Monaten das Karriereende drohte? Schnee von gestern. Dass er nun endgültig zu den besten Torhütern der Welt zählt? Das Resultat einer wundersamen Wandlung.
Von der Handball-EM berichtet Jonas Rütten.
Da standen sie nun und lagen sich für ein paar Sekunden innig in den Armen. Zwei Männer, die nicht immer ein gutes Verhältnis zueinander hatten, im Glück und in der Erleichterung über den erfolgreichen EM-Auftakt vereint. Während das Spiel gegen die Schweiz noch lief, sorgten sie während einer Auswechslung für den größten Gänsehaut-Moment des Abends.
Die Rede ist von Alfred Gislason und Andreas Wolff. In dieser 51. Minute, in der "Andi Wolff"-Sprechchöre durch das ausverkaufte Düsseldorfer Stadion donnerten, waren sie Sinnbild für die pure Freude, die die Machtdemonstration gegen die Eidgenossen in Handball-Deutschland ausgelöst hatte. Der Bundestrainer und seine Nummer eins im Jubel vereint. Doch das war nicht immer so.
Bevor sie 2020 wieder bei der deutschen Nationalmannschaft aufeinandertrafen, verband Gislason und Wolff vorwiegend der "psychische Tiefpunkt" in Wolffs Karriere. So zumindest formulierte es dessen Weggefährte und Medienberater Kevin Gerwin bei der "Sportschau". Was war passiert?
Andreas Wolff kam 2016 als gefeierter EM-Held zurück aus Polen. Als Titelgarant. Als Torhüter, der die vielleicht beste Final-Leistung in der Geschichte der Handball-Europameisterschaft hingelegt hatte. Kurzum: Er kam zurück als nächster deutscher Handball-Superstar.
Die Medien rissen sich um den frechen, wortgewandten, aber durchaus auch streitbaren Torhüter. "Der böse Wolff", wie ihn eine schwedische Zeitung einst wegen seines finsteren Blicks während der Spiele und seines ganzen Auftretens getauft hatte, schien Handball-Deutschland im Sturm zu erobern.
Das Wichtigste in Kürze
Andreas Wolff: EM-Held beim THW Kiel am "psychischen Tiefpunkt"
Doch sein Wechsel im Sommer 2016 von der "kleinen" HSG Wetzlar zum deutschen Rekordmeister und Champions-League-Mitfavoriten THW Kiel, wo eben jener Alfred Gislason eine der erfolgreichsten Spieler-Generationen der Vereinsgeschichte anführte, bedeutete eine Karriere-Zäsur. In den wichtigen Spielen und Phasen der Saisons setzte Gislason nicht auf Wolff, sondern auf den Dänen Niklas Landin. Damals wie heute ein absoluter Weltklasse-Keeper – wenn nicht gar der beste.
"Das hat ihn ziemlich fertiggemacht", gesteht Gerwin. Wolff selbst gibt zu, an der Erwartungshaltung an sich selbst in Kiel gescheitert zu sein. Er habe das Gefühl gehabt, "immer der Beste sein zu müssen. Immer spielen zu müssen. Ich muss, ich muss, ich muss". "Blinder Ehrgeiz" nennt Wolff seine damalige Denkweise.
Eine Denkweise, die dem maximal motivierten Torhüter, der immer mal wieder über die Stränge des guten Geschmacks schlug, gerne auch mal Eigentore bescherte. Als die DHB-Stars Hendrik Pekeler, Patrick Wiencek und Steffen Weinhold 2021 ihre Teilnahme an der WM absagten, um in Corona-Zeiten bei ihren Familien sein zu können, kritisierte Wolff seine Teamkollegen öffentlich mit maximaler Schärfe.
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Ich sehe das sehr, sehr kritisch. Dass sie dieses Jahr das Turnier fahren lassen, nachdem sie selbst permanent in der Champions League aktiv waren, stört mich.
Andreas Wolff 2021 über die WM-Absagen der DHB-Stars
Andreas Wolff sorgt vor WM 2021 für DHB-Eklat: Vom bösen Wolff zum Papa Wolff
Der Gegenwind, der Wolff – mittlerweile in Diensten des polnischen Top-Klubs Kielce – entgegenschlug, war seiner Kritik entsprechend. Und am Ende wohl auch Auslöser für eine Wandlung, die ihn laut Bundestrainer Gislason erst so richtig in die Welt-Elite auf seiner Position gehievt hat.
Zwar sei sein Torhüter immer noch "ein extremer Hitzkopf", aber: "Andreas ist anders, er ist reifer geworden. Und dadurch ist er ein Weltklasse-Torhüter geworden“, sagt Gislason. Und Tatsache: Spricht mit man mit Wolff heute, so zeugen seine Aussagen von großer Selbstreflexion und auch ein Stück weit von einer größeren inneren Zufriedenheit.
Als besonders wertvoll bezeichnet er die Zusammenarbeit mit einer Psychologin, die ihm dabei geholfen habe, diesen "blinden Ehrgeiz" aus Kieler Zeiten abzulegen.
"Ich habe mich durch mein Pflichtdenken, dieses Gefühl, ein gutes Turnier spielen und die ganze Last der Mannschaft auf meinen Schultern tragen zu müssen, in mir selbst verloren", sagt Wolff heute. Durch die Gespräche mit der Psychologin habe er gelernt, sich und seinen Mitspielern Fehler nachzusehen und positiv zu bleiben.
"Ich bin ruhiger geworden, ich will als erfahrener Spieler den jungen Spielern, die wie ich früher nervös, angespannt und überambitioniert sind, Sicherheit vermitteln. Ich kenne ihre Situation und kann auf sie Einfluss nehmen", sagt der heute 33-Jährige, der nicht mehr der böse, sondern Papa Wolff sein will. Ein Vorbild für die so zahlreichen jungen Spieler im deutschen EM-Kader.
Handball-EM 2024 - Deutschland vs. Schweiz: Die Noten der DHB-Stars
Andreas Wolff vor Heim-EM lange verletzt: Einige Ärzte sprachen von Karriereende
Dass er exakt dieser Rolle bei seinem glanzvollen Auftaktspiel gegen die Schweiz mit zahlreichen Monster-Paraden und einem Fabel-Wert von knapp 61 Prozent gehaltener Bälle gerecht werden konnte, war noch vor wenigen Monaten nicht absehbar.
Denn Ende August bekam Wolff eine Schockdiagnose: Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule. Nicht nur die Heim-Europameisterschaft war in Gefahr, sondern auch seine gesamte Laufbahn. "Ich habe verschiedenste Diagnosen bekommen, manche davon verheerend. Karriereende", sagt Wolff. Nahezu alle Ärzte raten ihm zu einer Operation, das sichere Aus für die EM. Wolff versucht es mit einer konservativen Behandlung in Deutschland und hat Erfolg.
Wochenlang quälte er sich im Trainingszentrum des Fußball-Bundesligisten TSG Hoffenheim und schaffte es rechtzeitig zurück. Nach den zwei Testspielsiegen gegen Portugal kurz vor EM-Start behauptet er, bei 85 Prozent zu stehen.
Nach dem Spiel gegen die Schweiz glaubt ihm das keiner mehr. Eine Leistung "von einem anderen Stern", urteilte Deutschlands größter Hoffnungsträger neben Wolff selbst, Juri Knorr (23). "Absolute Weltklasse", sagte Abwehr-Ass Julian Köster (23).
Es sind Spieler wie Köster und Knorr, denen Wolff ein Vorbild sein und denen er etwas von seinen Erfahrungen mit auf den Weg geben will. Spieler, auf die sich die DHB-Auswahl qua ihres Talents und ihrer hohen Spielanteile schon jetzt und trotz ihres Alters verlassen muss.
Andreas Wolff und Alfred Gislason: Arm in Arm zum EM-Titel?
Auf sie und den Leit-Wolff wird es ankommen. Und das nicht nur im zweiten Gruppenspiel gegen Nordmazedonien (am Sonntag ab 20:30 Uhr im LIVETICKER), wo bereits das Ticket nach Köln und für die Zwischenrunde gebucht werden kann. Wolff will mit der DHB-Auswahl ein "fantastisches Turnier" spielen, das "optimalerweise im EM-Titel gipfelt".
Ein bisschen ist er also noch da, der alte und hochambitionierte Wolff, der sich die größtmöglichen Ziele setzt. Nicht aber mit blindem und teils "egoistischem" Ehrgeiz, wie er seine abgelegte Schwäche beschreibt, sondern mit Respekt und Wertschätzung für die Kollegen und als Team. "Ich mache mir da keinen Druck mehr. Aber: Du kannst nicht nach den Sternen greifen, wenn der Himmel die Grenze für dich ist."
Und vielleicht stehen sie dann am 28. Januar in Köln nach dem großen EM-Finale wieder Arm in Arm da. Alfred Gislason und Andreas Wolff. Zwei Männer auf ihrem neuen Höhepunkt, die einst nur der "psychische Tiefpunkt" in Wolffs Karriere verband.