Julian Nagelsmann folgt beim DFB auf Hansi Flick. Ein Szenario, das beide Trainer bereits kennen. 2021 übernahm Nagelsmann ebenfalls den Job von Flick - damals beim FC Bayern München.
Damals wie heute war schon zum Amtsantritt klar: Der 36-Jährige muss eine riesige Herausforderung meistern. Allerdings jeweils unter ganz anderen Vorzeichen.
In München übernahm Nagelsmann immerhin einen Sextuple-Sieger. Zwar einen, der in den letzten Flick-Monaten zu taumeln begann, insgesamt aber durchaus intakt zu sein schien. Die DFB-Elf hingegen muss der neue Bundestrainer nahezu komplett umkrempeln.
Mit weniger als einem Jahr Zeit soll Nagelsmann aus einem mehrfach bei großen Turnieren gescheiterten Team eine Mannschaft formen, die 2024 bei der Europameisterschaft im eigenen Land wieder zu begeistern weiß.
Baustellen wird der neue Mann an der Seitenlinie genug haben. So viele, dass er sie nicht alle wird schließen können. Umso wichtiger werden Prioritäten sein. Drei von ihnen wären ein guter Anfang.
DFB-Team: So kann Nagelsmann die Defensive stabilisieren
Spiele gewinnt die Offensive, Meisterschaften die Defensive - ein Spruch, der in Deutschland immer wieder gern rezitiert wird. Wie viel Wahrheit tatsächlich darin steckt, ist fraglich. Doch Nagelsmann wird ohnehin keine Wahl bleiben: Will er bei der Europameisterschaft erfolgreich sein, wird er Stabilität in die Abwehr bringen müssen.
Unter Flick präsentierte sich das DFB-Team fehleranfällig mit dem Ball sowie anschließend verwundbar bei Kontern. In München war es damals ähnlich. Nagelsmann versuchte dem entgegenzuwirken, indem er dem Team eine andere Struktur vorgab. Statt schon in Ballbesitz ausnahmslos sehr breit positioniert zu sein, wollte er, dass seine Spieler kürzere Abstände zueinander halten.
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Rettig neuer DFB-Geschäftsführer: Wie sich "Schweinchen Schlau" mit dem Establishment anlegt
Rettig vs. Establishment Der DFB macht Andreas Rettig zum Bierhoff-Nachfolger und holt sich damit seinen schärfsten Kritiker der letzten Jahre ins eigene Haus. Der 60-Jährige ließ in der Vergangenheit kaum eine Gelegenheit aus, sich mit dem Establishment anzulegen.
"König der Scheinheiligen" als Heilsbringer "König der Scheinheiligen", "Schweinchen-Schlau", "Zwecknostalgiker" - Rettig zieht immer wieder Unmut auf sich. Er selbst bezeichnet sich als Traditionalist, den die Kommerzialisierung im Profi-Fußball stört. Die WM in Katar boykottierte er öffentlichkeitswirksam. Zehn Monate später soll ausgerechnet er den DFB-Karren wieder aus dem Dreck ziehen.
Rettig muss ein Teamplayer sein Das kann nur gutgehen, wenn die Polarisierung aufhört, sagte Grünen-Chef Omid Nouripour im "Doppelpass". "Wenn er sich nicht hinstellt, jetzt komme ich hier und erkläre euch allen, wie es geht. Wenn er ein Teamplayer ist." Das war er in der Vergangenheit nicht immer. ran zeigt eine Chronologie der Rettig-Streitigkeiten.
Rettig bei der DFL: Fans lieben ihn, Vereine weniger (2013-2015)
Nach Manager-Jahren im Vereinsfußball und Mitwirkung bei der Revolutionierung der Nachwuchsarbeit beim DFB Ende der 90er Jahre übernahm Rettig 2013 den Posten des DFL-Geschäftsführers. Unter seiner Führung verbesserte sich das Verhältnis zu organisierten Fangruppierungen. Mit dem ein oder anderen Verein und mit dem DFB stand er auf Kriegsfuß.
Rettig legt sich mit dem DFB an (2013) Als der DFB 2013 nach Robin Dutts Abschied einen neuen Sportdirektor suchte, forderte Rettig Mitspracherecht und zog den Ärger von Präsident Wolfgang Niersbach auf sich: "Wenn nun ein Mann, der noch kein halbes Jahr bei der DFL angestellt ist, so ziemlich alles und jeden in unserem Verband infrage stellt, ist dies anmaßend und völlig unangebracht."
Rettig verweigert RB Leipzig die Lizenz (2014) 2014 verweigerte Rettig als DFL-Geschäftsführer RB Leipzig nach deren Aufstieg die Lizenz für die zweite Liga. Er fürchtete, der von Red Bull gesponserte Verein würde gegen die 50+1-Regel verstoßen. Eine Regel, die besonders Rettig sakrosankt ist. Weil der Lizenzierungsausschuss ihn damals überstimmte, durfte Leipzig auch ohne Rettigs Segen im Bundesliga-Unterhaus antreten.
Rettig verweigert RB Leipzig die Lizenz (2014) Übrigens: Vorstandsboss bei RB war damals Oliver Mintzlaff. Vielleicht eine Erklärung dafür, warum der heutige Red-Bull-Chef Mintzlaff in der Nationalmannschafts-Taskforce unmittelbar nach Rettigs Ernennung das Handtuch warf.
Streit um Verteilung der TV-Gelder (2015-2019) 2015 löste Rettig auf eigenen Wunsch seinen Vertrag auf. Es zog ihn zurück zum Vereinsfußball und er heuerte als kaufmännischer Leiter beim Zweitligisten FC St. Pauli an. Besser dotierte Angebote aus der Bundesliga soll der Idealist abgelehnt haben. Konsequent ist er immerhin. In seiner Zeit in Hamburg legte er sich erneut mit dem Establishment an. Streitpunkt damals: Die TV-Gelder.
Rudi Völler vs. "Schweinchen-Schlau" (2015) Rettig kämpfte für eine gerechtere Verteilung der TV-Gelder. Er stellte einen Antrag bei der DFL, wonach investorenunterstützte Vereine künftig keine TV-Gelder mehr erhalten sollen. Damit zog er auch Rudi Völlers Unmut auf sich. Der damalige Leverkusener Sportdirektor bezeichnete Rettig als "Schweinchen Schlau". Nach heftiger Kritik der Bundesliga-Klubs zog Rettig seinen Antrag wieder zurück.
"Schweinchen-Schlau" reloaded (2016) Wenige Monate später unternahm Rettig einen zweiten Anlauf. Statt des DFL-Vorstandes sollten nun Mitglieder des Ligaverbandes über die Verteilung der TV-Gelder entscheiden. Rummenigge bediente sich bei Völlers "Schweinchen-Schlau"-Zitat und forderte Rettig auf, der DFL das Vertrauen entgegenzubringen, das ihr zusteht.
"Zwecknostalgiker" Rettig kämpft für 50+1 (2018) Im Frühjahr 2018 entschieden sich die deutschen Klubs für die Beibehaltung der 50+1-Regel. Rettig, der sich lautstark gegen Investoren ausgesprochen hatte, wurde von FCB-Boss Rummenigge als "Ideologe" und "Zwecknostalgiker" bezeichnet. Rettigs Konter: "Rummenigge war ein erstklassiger Stürmer." Gemeint war wohl: Aber eben kein erstklassiger Funktionär.
Rettig legt sich erneut mit dem DFB an (2018) Im selben Jahr attackierte Rettig den DFB. Im Visier Präsident Reinhard Grindel, der als CDU-Mitglied die parteinahe Konrad-Adenauer-Stiftung beauftragte, die Nationalspieler vor der WM in Russland zu briefen. "Wir brauchen neutrale Instanzen und eine Struktur mit professioneller Führung, die glaubwürdig Werte abseits eigener oder parteipolitischer Interessen verkörpern", forderte Rettig damals.
Rettigs Traum, den Fußball menschlicher zu machen (2019) 2019 philosophierte Rettig im Interview mit der "taz" über seine Vorstellungen vom Profi-Fußball. So sollten Lizenzierungsverfahren erweitert werden. Nicht mehr nur Erfolg und Wirtschaftlichkeit sollten eine Rolle spielen, sondern auch Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung. Weitere Ideen: autofreie Spieltage, Spiele ohne Flutlicht, keine Sponsoren in Stadion-Namen. Nicht alle waren begeistert.
Rettig: Keine Chance gegen Oligarchen und Staatsfonds (2019) Laut Rettig brauche die Bundesliga keine Stars. Sie müsse ihre eigene DNA finden und die nachhaltigste, sozialste und emotionalste Profiliga der Welt werden. Internationalen Erfolg schien er abgeschrieben zu haben. "Man kann einen wirtschaftlichen Wettstreit gegen Oligarchen, Staatsfonds und chinesische Konglomerate aber nicht gewinnen, wenn man wirtschaftlich verantwortungsbewusst handelt."
Rettig fordert Boykott der WM in Katar (2022) Das größte Ärgernis für Rettig war die Vergabe der WM 2022 nach Katar. Wegen der katastrophalen Menschenrechtslage forderte er den Boykott des Turniers. Der streitbare Funktionär, der zuletzt als Geschäftsführer bei Viktoria Köln tätig war, kritisierte auch das Katar-Sponsoring des FC Bayern, was zu einem wutentbrannten Anruf von Uli Hoeneß im Doppelpass führte, als Rettig dort zu Gast war.
Hoeneß und Rettig streiten sich im Doppelpass (2022) Hoeneß beschimpfte Rettig als "König der Scheinheiligen", der ja auch im Winter warm dusche und sich damit am Gas der Kataris oder Saudis bediene. Rettig bezeichnete Hoeneß daraufhin als Botschafter von Katar und setzte seinen Boykott öffentlichkeitswirksam um.
Rettig boykottiert WM in Katar (2022) Statt die Spiele im Fernsehen zu verfolgen, tingelte Rettig durch die Kneipen, die sich dem Boykott mit dem Slogan "Kein Katar in meiner Kneipe" anschlossen. Das Ausscheiden der DFB-Elf verpasste Rettig dem Vernehmen bei einem Weihnachtsmarkt-Besuch in Köln.
Wieder Rettig-Kritik am DFB (August 2023) Erst im Sommer hatte Rettig erneut zur General-Kritik ausgeholt. Zielscheibe diesmal erneut der DFB: "Der deutsche Fußball hat irgendwann verpasst, den Hebel umzulegen", sagte er bei "watson". Im Verband habe man in der Nachwuchsarbeit "Dinge zu lange vor sich hergeschoben".
Rettig widerspricht Völler (September 2023) Jetzt kann Rettig, der formal Rudi Völler und Hannes Wolf vorgesetzt ist, die Dinge selbst in die Hand nehmen. Dass er sich dabei nicht den Mund verbieten lassen wird, bewies er gleich bei seinem ersten Auftritt in neuer Funktion. Obwohl Völler mehrfach betont hatte, der Bundestrainer-Einsatz gegen Frankreich sei eine einmalige Angelegenheit gewesen, erweckte Rettig einen anderen Eindruck:
Rettig widerspricht Völler (September 2023) "Der Rudi wird’s richten", tönte Rettig am Rande des Eröffnungsspiels der Frauen-Bundesliga. "Wir dürfen nicht alles negativ bewerten. Man sieht, was Rudi mit Handauflegen schafft. Wir sollten die ganze Schwarzmalerei mal sein lassen und nach vorne schauen mit Optimismus."
"Rettig tut dem DFB gut" Für den früheren Bayern-Star Stefan Effenberg, selbst ein Freund deutlicher Worte, ist die Ernennung Rettigs "keine falsche Entscheidung". "Rettig ist ein streitbarer Charakter, der für Reibung sorgt. So ein Mann tut dem DFB gut. Es ist nicht wichtig, dass es jedem gefällt", so Effe im "Doppelpass".
Krach mit Bayern und Leipzig Das sehen nicht alle im deutschen Fußball so. So traten am Sonntag Karlheinz Rummenigge und Oliver Mintzlaff aus Verärgerung über die Installation Rettigs aus der DFB-Taskforce zurück. Rummenigge monierte vor allem die fehlende Einbindung bei der "diskussionswürdigen Entscheidung".
Eines von vielen Prinzipien in der Spielphilosophie von Nagelsmann ist: Das Team soll so breit wie nötig, aber nicht so breit wie möglich stehen. Trotz seiner insgesamt weniger erfolgreichen Zeit in München feierte er mit dieser Strategie phasenweise Erfolge. Durch die Kompaktheit wurde das Gegenpressing gestärkt. Fehlpässe fielen weniger ins Gewicht, weil schnelle Rückeroberungen möglich wurden.
Selbst wenn das Gegenpressing nicht sofort greift, bleibt dem Gegner in vielen Fällen nur der Weg über die Außenbahnen. Unter Flick hingegen war der DFB häufig über die Schaltzentrale anfällig, weil die Abstände nach Ballverlusten zu groß wurden.
Eine große Frage wird zudem sein, ob Nagelsmann eher die Vierer- oder die Dreierkette bevorzugt. Taktisch kann beides je nach Gegner Sinn ergeben. Rein stimmungstechnisch herrscht in Deutschland jedoch eine fast schon irrationale Abneigung gegen die zuletzt immer wieder gescheiterte Dreierkette. Das könnte den Druck schnell erhöhen.
Julian Nagelsmann: Offensivprobleme des DFB-Teams
Ein beachtlicher Teil der defensiven Organisation fällt unter Nagelsmann in die Verantwortung der Offensive. Dort stehen ihm neben einiger bekannter Gesichter aus München auch weitere hochtalentierte Spieler wie Kai Havertz, Florian Wirtz oder Julian Brandt zur Verfügung.
Das Problem bisher: Vom Talent war auf dem Platz nicht viel zu sehen. Deutschland schoss unter Flick in 25 Partien zwar 60 Tore, doch so richtig zielstrebig wirkte das Offensivspiel nie. Der ehemalige Bundestrainer experimentierte auch hier viel – mal mit echter Neun, mal ohne. Und Nagelsmann?
Reaktionen auf Nagelsmann: "Schlimmer kann es nicht werden"
In München probierte er sich an einem System ohne echten Neuner und hatte damit keinen großen Erfolg. Ein weiteres Reizthema, das schnell Kritik hervorrufen könnte. Mit Leroy Sane, Jamal Musiala und Serge Gnabry kann Nagelsmann auf alte Bekannte zurückgreifen. Doch kann er sie diesmal auch nachhaltig in eine funktionierende Offensive integrieren?
Niclas Füllkrug war zuletzt sehr erfolgreich im DFB-Trikot, könnte unter Nagelsmann eine Art Wandstürmer geben. Als der in Hoffenheim Trainer war, ließ er Sandro Wagner als Schlüsselspieler auflaufen. Immer wieder band der Gegenspieler an sich und agierte als Fixpunkt im Spiel nach vorn.
Füllkrug hat in der kürzlich von "Amazon Prime" veröffentlichten DFB-Dokumentation von sich selbst behauptet, dass diese Art von Spiel zu seinen größten Qualitäten gehört. Gelingt es Nagelsmann, um ihn herum ein funktionierendes System mit quirligen und schnellen Spielern zu bauen, wäre das ein wichtiger Schritt nach vorne.
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Julian Nagelsmann braucht eine Achse im DFB-Team
Um Offensive und Defensive entsprechend auszubalancieren, bedarf es vor allem einer in den vergangenen Jahren verlorengegangenen Stabilität. Flick stellte in seinen 25 Spielen nie zweimal dieselbe Elf hintereinander auf. Die fehlende Kontinuität im Kader zeigte sich letztendlich auch auf dem Platz.
Noch viel schlimmer war aber, dass es unter Flick keine Achse gab, die Verantwortung übernahm. Zwar müssen sich die Spieler das selbst ankreiden, doch ein Trainer muss dafür sorgen, dass es in der Kabine eine klare Hierarchie gibt. Im DFB-Team gibt es hingegen zu viele Unklarheiten.
Nagelsmann nicht der Jüngste: So alt waren die Nationaltrainer beim DFB-Debüt
Nagelsmann nicht der Jüngste: So alt waren die DFB-Trainer beim Debüt Dass Julian Nagelsmann die Nachfolge von Hansi Flick als Bundestrainer antritt, gilt als gesichert. Der ehemalige Bayern-Trainer übernimmt das DFB-Team bis zur EM. Er wird aber nicht der jüngste Bundestrainer der Geschichte sein. ran zeigt, wie alt die Bundestrainer bei ihrem jeweiligen Debüt waren. (Stand: 19. September 2023)
Otto Nerz Alter beim Debüt: 34 Jahre Debüt als Bundestrainer: Niederlande - Deutschland 2:3 (31. Oktober 1926)
Welche Rolle übernimmt Ilkay Gündogan taktisch, aber auch als Führungsspieler? Wohin mit Joshua Kimmich, der in der Nationalmannschaft eher durchwachsen agiert? Was passiert mit Thomas Müller, der zunächst aussortiert, dann aber doch wieder berufen wurde? Und wer hat in der Abwehr eigentlich das Sagen?
Fragen über Fragen, die weiterhin offen sind. Nagelsmann wird Klarheit reinbringen und eine Achse finden müssen, die dem Team Stabilität geben kann. Dafür muss er die Führungsspieler des Teams wieder stärken, ihnen Selbstvertrauen zurückgeben und dafür einfordern, dass sie Verantwortung übernehmen.
Als Nagelsmann in München auf Flick folgte, gelang es ihm in einigen Phasen gut, die Probleme nach und nach in den Griff zu bekommen. Doch Phasen reichen beim FC Bayern nicht. Und Phasen werden auch beim DFB nicht reichen. Die Herausforderung ist für ihn riesig. Zumal er nicht tagtäglich mit der Mannschaft arbeiten kann. Das wird den Umfang seiner Anpassungsmöglichkeiten drastisch reduzieren.
Dass Nagelsmann nun wieder der Nachfolger von Flick ist, obwohl das beim letzten Mal durchwachsen klappte, kann aber auch ein Vorteil sein. Denn immerhin ist seitdem einiges passiert. Vielleicht wird die negative Erfahrung beim FC Bayern auch ein Schlüssel zum Erfolg sein.
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DFB: Die Chronologie des Niedergangs der Nationalmannschaft
DFB-Elf in der Krise Neun Monate vor der Heim-EM 2024 steckt die DFB-Elf tief in der Krise. Das 1:4-Debakel gegen Japan ist der vorläufige Höhepunkt des Niedergangs eines Teams, das die Negativ-Entwicklung selbst offenbar nicht wahrhaben will. Ein Blick ins Geschichtsbuch verdeutlich allerdings, dass der Abstieg schon vor vielen Jahren begonnen hat.
EM 2016: Löw hofft auf Double Als amtierender Weltmeister rechnete sich das DFB-Team mit Jogi Löw auch bei der EM 2016 Titelchancen aus. Auch ohne Philipp Lahm oder Miroslav Klose, die längst ihre Karriere beendet hatten. Bastian Schweinsteiger war zwar noch dabei, hatte seinen Zenit aber auch schon überschritten.
Deutschland bei EM 2016 Mitfavorit Im Vorfeld der EM lief es nicht rund Das 0:2 gegen Frankreich in Paris, während dem Terroristen 130 Menschen töteten, hinterließ mental Spuren. Zudem gab es Niederlagen gegen England und die Slowakei. Der erste Sieg gegen Italien (4:1) seit 1995 verklärte das Bild. Deutschland galt bei der EM als Mitfavorit auf den Titel, Bundestrainer Löw als unantastbar.
Kimmichs Stern geht auf Das Turnier verlief glanzlos. Arbeitssiege gegen die Ukraine (2:0) und Nordirland (1:0) , ein torloses Remis gegen Polen und dann ein 3:0-Pflichtsieg im Achtelfinale gegen die Slowakei. Einziges Highlight: Bei der EM ging der Stern des 21-jährigen Joshua Kimmich auf – als Rechtsverteidiger.
2016: Schweinsteiger Pechvogel beim EM-Aus Als die DFB-Elf im Viertelfinale dann erstmals Italien bei einem großen Turnier bezwang (6:5 i. E. ), war die Euphorie groß. Die Ernüchterung kurz darauf noch größer. Mit 0:2 schied der Weltmeister sang- und klanglos im Halbfinale gegen Frankreich aus. Ausgerechnet WM-Held Schweinsteiger leitete die Pleite mit einem verursachten Elfer ein.
Löw bleibt nach EM 2016 im Amt Trotzdem: Halbfinale ist ein Ergebnis, das sich sehen lassen kann. Zwar gab es langsam erste Stimmen, die über eine Ablösung Löws spekulierten. Der Bundestrainer aber wollte die Scharte wieder auswetzen und versprach Wiedergutmachung bei der WM 2018. Fußball-Deutschland vertraute. Zunächst zu Recht.
Mega-Serie bei WM-Quali und Sieg im Confed Cup 2017 gewann eine deutsche B-Elf den Confed Cup, die U21 wurde Europameister. Die erste Garde überzeugte bei der Qualifikation für die WM 2018 mit einer weißen Weste. Zehn Spiele, zehn Siege, 43:4 Tore. Insgesamt blieb die Nationalmannschaft 22 Spiele in Serie ungeschlagen. Doch die Zahlen blendeten.
Wake-Up-Call gegen Österreich vor WM 2018 Ende 2017 kippte das Momentum. Die Leistungen wurden Stück für Stück schlechter. Gegen Topteams wie England (0:0), Frankreich (2:2) und Spanien (1:1) ging nicht mehr als ein Unentschieden. Anfang 2018 beendete Brasilien den deutschen Siegeszug (0:1). Den ersten Wake-up-Call gab’s aber erst kurz vor dem Turnier, als Österreich die deutsche Elf erstmals seit 32 Jahren besiegte (1:2).
Erste Risse Abseits des Platzes gab es erste Risse zwischen der Mannschaft und den Fans. Der Vorwurf: Der DFB würde sich immer mehr von den Fans entfremden, Marketing-Aktionen waren wichtiger als tatsächliche Fan-Nähe. Hinzu kam Erdogan-Gate.
Erdogan-Gate vor WM 2018 Kurz vor der WM posierten Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Fans forderten den Rauswurf beider Spieler, Löw entschied sich dagegen. Während sich Gündogan später von der Aktion distanzierte, führte Özils Verhalten letztlich zu seinem Rücktritt aus der Nationalmannschaft.
WM: Quartier-Ärger beim DFB Zudem gab es intern Querelen um das WM-Quartier. Während Löw lieber in der Sonne von Sotschi trainieren wollte, wählte Teammanager Oliver Bierhoff mit Watutinki eine Unterkunft mit "Sportschulen-Charme" eine Fahrstunde von Moskau entfernt. Weil sich einige Spieler die Nächte mit Playstation-Zocken um die Ohren schlugen, musste der DFB nachts sogar das W-LAN abstellen.
Erstes Vorrunden-Aus bei einer WM Prompt ging auch erstmals seit 1982 ein Auftaktspiel einer WM oder EM verloren. 0:1 gegen Mexiko. Toni Kroos‘ Last-Minute-Freistoßtor zum 2:1 gegen Schweden in der Nachspielzeit schürte zwar wieder Hoffnung, doch mit einer kampflosen 0:2-Niederlage gegen Südkorea im dritten Gruppenspiel schied Deutschland erstmals überhaupt bei einer WM in der Vorunde aus.
2018: Negative Bilanz für DFB-Team "Löw raus"-Rufe machten die Runde. Doch entgegen der Stimmung im Land hielt der DFB am Bundestrainer fest. So wollte sich Löw nicht verabschieden. Doch es wurde nicht besser. Mit schwachen Leistungen in der neu eingeführten Nations League beendete die Nationalmannschaft erstmals seit 1985 ein Jahr mit einer negativen Bilanz.
2020: 0:6-Blamage gegen Spanien Löw plante den Umbruch, musterte Mats Hummels, Thomas Müller und Jerome Boateng aus, um jüngeren Spielern im Hinblick auf die EM 2020 eine Chance zu geben. Nachdem die EM wegen der Pandemie um ein Jahr verschoben wurde, blieb nur die Nations League als Gradmesser. Am 17. November 2020 setzte es ein historisches 0:6 gegen Spanien. Der vorübergehende Tiefpunkt.
Gescheiterter Umbruch Im Frühjahr holte Löw reumütig Müller und Hummels zurück. Es war notwendig aber auch ein Eingeständnis, dass der Umbruch zunächst gescheitert war. Sowohl die EM-Vorbereitung als auch die WM-Quali verliefen durchwachsen, so dass das Team angeschlagen ins Turnier ging. Vielleicht würde ja doch alles gutgehen? Ging es bekanntlich nicht.
2021: Aus für Bundestrainer Löw Ausgerechnet Rückkehrer Hummels fabrizierte beim 0:1 gegen Frankreich ein Eigentor. Das 4:2 gegen Portugal war nur zwei portugiesischen Eigentoren zu verdanken, das 2:2 gegen Ungarn eine Zitterpartie. Das Aus im Achtelfinale beim 0:2 gegen England folgerichtig. Löw hatte nun ein Einsehen. Das 198. Spiel als Bundestrainer sollte sein letztes sein. Auch Kroos trat zurück.
2021: Flick übernimmt Hansi Flick, bis 2014 Jogis Co-Trainer, übernahm im September 2021 mit breiter Brust. Schließlich hatte er mit dem FC Bayern München gerade das Sextuple gewonnen. Fußball-Deutschland war wieder zuversichtlich. Es blieb ein gutes Jahr bis zur WM 2022 in Katar, um den Karren wieder flott zu bekommen.
2022: Prestige-Erfolg gegen Italien Flick startete mit einer Acht-Spiele-Siegesserie gegen schwächere Gegner, schlug sich auch mit Unentschieden gegen die Niederlande, Italien und England (jeweils 1:1) tapfer. Das 5:2 gegen Italien in der Nations League im Sommer 2022 blieb jedoch der Höhepunkt seiner Amtszeit.
Vorrunden-Aus in Katar Danach ging es steil bergab. Schon die unmittelbare WM-Vorbereitung verlief durchwachsen mit der ersten Niederlage für Flick als Bundestrainer gegen Ungarn (0:1). Es folgte das desolate Vorrunden-Aus in Katar, bei dem sich die Nationalmannschaft mit der Menschenrechtslage im Gastgeberland eher für Politik als für den rollenden Ball und den nächsten Zweikampf zu interessieren schien.
Flick entlassen Seitdem befand sich das Flick-Team im freien Fall. Verunsichert, uninspiriert, erfolglos. Mit zuletzt drei Pleiten in Folge gegen Polen (0:1), Kolumbien (0:2) und Japan. Am Sonntag zog der DFB daher Konsequenzen und entließ den glücklosen Bundestrainer. Flick verabschiedet sich damit mit zwölf Siegen aus 25 Spielen.